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Den Mördervolk-Mythos bilden

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Vor sechzig Jahren, am 23. Mai 1949, ist das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten. Die allseitige Wertschätzung ist groß. Anläßlich der Feierstunde zum 60. Jahrestag des ersten Zusammentritts der verfassungsgebenden Versammlung vertrat der Präsident des Deutschen Bundestages, Norbert Lammert, die Überzeugung: „Das ursprünglich als Provisorium gedachte Grundgesetz ist heute die unangefochtene Grundlage der politischen Verfassung unseres Landes.“ Kein Teilnehmer, kein Medium widersprach.

Diese Verfassung beginnt mit den Worten: „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen (…) hat sich das Deutsche Volk (…) dieses Grundgesetz gegeben.“ Ein Satz daraus ist geradezu zu einem geflügelten Wort, zu einer häufig gebrauchten Redewendung geworden, nämlich Artikel 1 Absatz 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

Keinen Zweifel läßt dieser Satz des Grundgesetzes daran, daß selbstverständlich auch der deutsche Mensch Träger dieser Würde ist, eben jeder Mensch ohne Rücksicht auf Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft, religiöse oder politische Anschauung, wie Artikel 3 Absatz 3 ergänzt.

Unbestritten ist ferner, daß die abscheulichen Verbrechen der totalitären Regime des 20. Jahrhunderts den ausdrücklichen Rechtsschutz der Würde bewirkt haben. Begann der Angriff auf die Menschenwürde erst mit der physischen Mißhandlung, Zwangssterilisierung, Vertreibung, Deportation und Vernichtung der Opfer? Oder begann er schon mit der Diskriminierung, der Ehrabschneidung? Sind Leben, Gesundheit und Freiheit unvergleichlich ranghöher als die Ehre? „Der Güter höchstes ist das Leben nicht, der Übel größtes aber ist die Schuld“, belehrt ein altes Sprichwort.

Daran mag Otto Wels, der SPD-Vorsitzende, gedacht haben, als er namens seiner Fraktion am 24. März 1933 das Ermächtigungsgesetz ablehnte. Mit bebender Stimme begründete er das Nein: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“ Die allein richtige Antwort auf die Frage, ob schon leichtfertige oder böswillige Vorwürfe, die Kapitalverbrechen zur Last legen, gegen Wortlaut und Geist des Grundgesetzes verstoßen, dürfte ein klares Ja sein. Dies um so mehr, wenn die Vorwürfe in hohem Maße ehrenrührig sind, so Parolen wie: „Die Juden sind unser Unglück!“

Ein früherer deutscher Außenminister vertrat die Ansicht: „Alle Demokratien (…) haben eine Basis. Für Frankreich ist das 1789. Für die USA die Unabhängigkeitserklärung. Für Spanien der Spanische Bürgerkrieg. Nun, für Deutschland ist das Auschwitz.“

Die Bundeszentrale für politische Bildung in Bonn, also das amtliche Berlin, vertreibt seit 2003 ein Buch, das den Titel trägt: „Hingeschaut und weggesehen. Hitler und sein Volk“. Der Klappentext skizziert wie üblich den Inhalt: „Der Autor, Professor für die Geschichte des Holocaust am Center for Holocaust Studies, USA, beweist stichhaltig, daß die Deutschen nicht nur von den Verbrechen der nationalsozialistischen Machthaber wußten, sondern darüber offen informiert wurden und weit aktiver, als bisher bekannt war, mithalfen – durch Zustimmung, Denunziation oder Mitarbeit.“ Kurz also: die Deutschen damals ein Mördervolk.

Doch wer sich die Mühe macht, das Buch daraufhin durchzusehen, findet nirgendwo diese „stichhaltigen Beweise“. Wer sich nun an die Bundeszentrale wendet, die für den Klappentext Verantwortliche, erlangt auch auf diesem Wege nicht die gewünschte Aufklärung. Das Kuratorium des Deutschen Bundestages, das die Arbeit der Bundeszentrale überwacht, beschwichtigt mit der Behauptung, daß der Klappentext „nicht die Bewertung der Bundeszentrale wiedergibt“. Doch ihr Name und kein anderer steht unter dem Zitierten!

Jene Juden, die damals in Deutschland lebten und noch Gelegenheit fanden, uns ihre Erlebnisse mitzuteilen, haben uns ein ganz anderes, weit positiveres Bild der gewöhnlichen Deutschen hinterlassen. Fast dreieinhalb Jahre mußte Victor Klemperer als mit dem Judenstern Stigmatisierter in Dresden leben und in verschiedenen Betrieben arbeiten. Sein Resümee: „Fraglos empfindet das Volk die Judenverfolgung als Sünde.“ Kurz vor ihrer Deportation und Ermordung schrieb Ludwig Marcuses Schwester Edith: „Nach wie vor halte ich daran fest, das Volk ist gut; nur ein kleiner Teil hat diesen anerzogenen Haß in sich.“ Und dem Nichtjuden Jochen Klepper, der freiwillig das Schicksal seiner jüdischen Frau sowie seiner jüdischen Stieftochter Renerle auf sich nahm und mit ihnen in den Tod ging, verdanken wir die Feststellung: „Das Volk ist ein Trost“. Von diesen und weit über einhundert ähnlichen Bekundungen findet sich keine einzige in dem Buch, das angeblich den Nachweis der Kollektivschuld des deutschen Volkes führt.

1935, nach Verabschiedung der Nürnberger Gesetze, bat die Jüdische Rundschau: „Eine Diffamierung der Juden soll unterbleiben. (…) Wer sich in die Lage eines aufrechten und gesund empfindenden Menschen versetzt, der in Publikationen sein Volk als ‘Mördervolk’ bezeichnet findet, wird diese Forderung wohl verstehen können.“

Und 2009? Wer sich die eingangs abgedruckten feierlichen Erklärungen vergegenwärtigt und „sich in die Lage eines aufrechten und gesund empfindenden Menschen versetzt“, kann schwerlich umhin, gegen die Diffamierung seiner,  das heißt unserer Vorfahren seine Stimme zu erheben.

Prof. Dr. Konrad Löw lehrte Politikwissenschaften an der Universität Bayreuth. Er ist Autor des Buches „‘Das Volk ist ein Trost’. Deutsche und Juden 1933–1945 im Urteil der jüdischen Zeitzeugen“.

Fotos: Nach der am 19. September 1941 in Kraft getretenen Polizeiverordnung sind alle Juden verpflichtet, den „Davidstern“ zu tragen: „Fraglos empfindet das Volk die Judenverfolgung als Sünde“; Buchrücken des Kollektivschuldbuches: Stichhaltiges fehlt

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