Für die Mehrheit unter den Bewohnern des einst christlichen „Kerneu-ropa“ ist Gott nur noch ein Phonem. Gäbe es nun nicht die „Herausforderung“ durch den importierten Islam, wäre das tradierte religiöse Orientierungswissen wohl innerhalb der nächsten zwei Generationen still und undramatisch endgültig ausgemustert worden. Denn die Hochzeiten des Kampfes „um“ die christliche Religion, die naturwissenschaftlich gepanzerte atheistische Militanz gegen die kirchlich vermittelte Weltanschauung, das „Gott ist tot“-Feldgeschrei: Überall in Europa war das seit hundert Jahren Vergangenheit. Schon um 1925 wäre im „Abendland“ so etwas wie die staatlich gelenkte bolschewistische „Gottlosen“-Propaganda Lenins und Stalins undenkbar gewesen, da angesichts sich ausbreitender Gleichgültigkeit gegenüber religiöser Sinnvermittlung solcher Aufwand gar nicht mehr lohnte. Nun hingegen scheint der sanft entschlummernde christliche Glaube wenigstens kurzfristig zu neuem Leben zu erwachen. Das „Thema Religion“ erheischt öffentliche Aufmerksamkeit, kehrt in die „politischen Debatten“ zurück. Und prompt ist auch ein „neuer Atheismus“ zur Stelle, wenn auch mit den alten, bekannten Attacken gegen den „Gotteswahn“ (Richard Dawkins). Allerdings passen sich streitbare Geister wie Dawkins damit nur dem Niveau der Gegenseite an. Dies belegen zahllose Diskussionsbeiträge, die auch den Zeitschriftenmarkt überschwemmen. Auch die Praktische Theologie, das Organ der Evangelischen Akademien in Deutschland, hebt sich davon mit ihrem jüngsten Themenheft zur „Theologie im interdisziplinären Gespräch“ (1/08) nicht ab, wenn dort Philosophen, Psychologen und Physiker ein Reservat für die Religion mit Argumenten einzäunen, die an jene der protestantischen „Vermittlungstheologie“ von 1910 erinnern. So bekennt die linksliberale Psychologin Eva Jaeggi, sie stehe „Religionsgemeinschaften nicht im geringsten abweisend“ gegenüber. Sie konzediert ihnen sogar, „noch“ eine gesellschaftliche Funktion zu erfüllen, nämlich mit ihren „Chiffren“ als „integrative Kraft“ zu wirken. Jaeggi geht sogar so weit zu behaupten, daß keine Kultur ohne Religion auskäme. Zumindest der Durchschnittsmensch, die „Massen“, benötigen eine transzendente Fundierung ihrer Verhaltensregeln, obwohl es schon „sehr viele Mitmenschen“ gebe, die ohne Religion ethisch handeln könnten. Beste Voraussetzungen für solches Edelmenschentum bringt mit, wer bei Frau Jaeggi oder ihren Kollegen schon einmal auf der Couch lag. Denn allem Lippendienst zur sozialen Nützlichkeit der Religion zum Trotz: Was die kann, gibt sich Jaeggi überzeugt, kann die Psychotherapie schon lange. Sie könnte sie also auch ersetzen. Was Jaeggi der Religion unterstellt, an der „Einfügung des einzelnen in ein größeres Ganzes“ zu arbeiten, biete die von der „Ego-Zentriertheit“ befreiende Wissenschaft Freuds ähnlich effizient an, nur sei sie dabei an keine „Transzendenz ‚außerhalb'“ gebunden. Nur ein flotter Sprung über den Zaun ist von hier aus nötig, um Gott für die Palliativmedizin mobil zu machen, seine „Nützlichkeit“ in der Sterbehilfe zu beweisen, wie Traugott Roser und Gian Domenico Borasio ausführen. Ähnlich pragmatisch begründet der Philosoph und sich hier als „protestantischer Laie“ verbeugende Volker Gerhardt das Lebensrecht der Religion. Nur daß er nicht auf Freud, sondern, wenn auch unausgesprochen, auf einen noch erheblich älteren Kämpen im Diskurs zwischen Vernunft und Glauben, auf den Aufklärer Lessing rekurriert. Denn auf dessen „…das ist das Ende der Philosophie, zu wissen, daß wir glauben müssen“ schrumpft Gerhardts wortreiche Einlassung letztlich zusammen – nebst der bei ihm unvermeidlichen Eloge auf die „politische Konstitution der individuellen Rechte“, die man der „christlichen Botschaft“ aufs Pluskonto buchen sollte. Die „Reflexionen eines Physikers“, die Helmut Büttner über „Urknall, Chaos, Quanten – und die Religion“ beisteuert, lassen kaum ahnen, warum sich derzeit noch vierzig Prozent der Naturwissenschaftler als „irgendwie religiös“ bekennen. Denn zwingend ist das nicht, aus dem Versagen wissenschaftlicher Erklärungsmodelle pragmatisch fix eine Berechtigung religiöser Weltdeutungen abzuleiten. Daß man nur darüber spekulieren könne, wie aus Materie Bewußtsein geworden sei, sagt nichts weiter aus, als daß es, wie Büttner richtig bilanziert, „grundsätzliche Grenzen“ des Wissens gibt. Immerhin sind diese Grenzen für ihn flexibel. Fragen, die „momentan“ keine Antworten zuließen, müßten für „aktive Forschung“ keine Fragen bleiben. Damit wahrt der Physiker letztlich doch die Freiheit, sich bei „bedrückenden Ungewißheiten“ nicht an „Religionsorganisationen“ wenden zu müssen.