Der Kriegszustand lag förmlich in der Luft. Bereits seit November 1981 gab es für Soldaten eine generelle Urlaubssperre, Ausgang war nur in Ausnahmefällen möglich und die Wochenzeitschrift Solidarność in den Kasernen verboten. Dafür ließen die Generäle Sondervorträge über die Sicherheitslage halten, den Politunterricht verschärfen und Nahrungsmittel in den Armeedepots horten. Moskaus letzte Hoffnung auf Fortbestand kommunistischer Verhältnisse in Polen wollte nicht untätig bleiben. Der Feind nannte sich „Solidarność“. Er führte zwar den Namen „Gewerkschaft“ in seinem Titel, blieb aber seinem Wesen nach eine außerparlamentarische Opposition – und für den polnischen Kommunismus ein ungewolltes Kind. Die Partei mußte seine Existenz nach den machtvollen Arbeiterprotesten in Stettin, Danzig und Kattowitz zur Kenntnis nehmen. Zähneknirschend ließ sie die Gründung einer Gewerkschaft („Danziger Abkommen“, 31. August 1980) zu, die außerhalb ihrer Kontrolle lag. Immerhin: „Gewerkschaft“, das ließ sich den Genossen in Moskau vielleicht noch verkaufen als ein auf die Arbeitswelt begrenztes Ding, das man mit der Taktik von Zuckerbrot und Peitsche schon noch weichbekommen sollte. Nur das Militär taugte für einen roten Neuanfang Doch die Zulassung einer nichtkommunistischen Gewerkschaft war in mehrfacher Hinsicht ein Novum. Zunächst ein legitimatorisches: Die Partei, bis dahin unbestrittener Monopolist in Politik und Gesellschaft, fand sich nolens volens neben eine Konkurrenz gestellt, die weitaus mehr Zustimmung im Volk hatte, nicht korrupt war und ihr geistiges Potential aus einer Mischung von weltoffenem Katholizismus und strengem Antitotalitarismus schöpfte. Doch wie weit sollte der Einfluß einer solchen Bewegung reichen? In den sensiblen Part von Sicherheits- und Außenpolitik durfte die „Solidarność“ nie vordringen, Rechts- und Justizfragen kaum erläutern, eine parlamentarische Vertretung nicht haben, weil dies freie Wahlen – nach Auffassung der Partei ein Unding – vorausgesetzt hätte. Das ungewollte Kind mußte also rebellisch werden, radikalisierte sich zunehmend, drohte gar außer Kontrolle zu geraten. Im Februar 1981 fegte ein ferngelenkter Sturm die Kompromißler aus Partei und Regierung hinweg. Der bisherige Ministerpräsident Józef Pinkowski und sein Stellvertreter Mieczysław Jagielski – Unterzeichner des „Danziger Abkommens“ – gaben entnervt auf, ihren Platz nahm ein Uniformierter ein: General Wojciech Jaruzelski, bis dato Verteidigungsminister. Mit ihm rückten zahlreiche andere Generäle in Schlüsselpositionen des Sicherheits- und Parteiapparates ein, die Polen wurden mit Lebensmittelkarten und Verhaftungslisten für die Opposition konfrontiert. Jaruzelskis Wahl zum Ministerpräsidenten im Winter und zum Parteichef im Sommer 1981 markiert einen Wendepunkt in der polnischen Nachkriegsgeschichte. Sie bedeutet nicht nur einen Sieg der Falken über die Tauben in der Partei, nicht nur eine Ablehnung der mißliebigen „Solidarność“. Sie ist auch der Versuch, die kopf- und machtlos gewordene Partei durch Massenausschlüsse auf den intakten Kern zu reduzieren und erneut zu einer Kaderorganisation zu entwickeln, mithin einen radikalen personellen Neuanfang zu wagen. Daß dieser Kern unter den auf Moskautreue vereidigten und rigide ausgebildeten Offizieren zu suchen war, lag auf der Hand. Der 13. Dezember 1981 war ein Sonntag, ein Wochentag mithin, an dem die organisierte Arbeitswelt kaum funktionsfähig ist. Jaruzelski hatte seinen Coup wohlberechnet: die erste große Verhaftungswelle rollte bereits kurz nach Mitternacht an. Da unmittelbar zuvor, am späten Samstagabend, in Danzig die letzte Sitzung des „Solidarność“-Vorstands zu Ende ging, gelang den Militärs die Verhaftung fast der gesamten Führung der Opposition auf einen Schlag. Der Kriegszustand spaltete die polnische Gesellschaft Die Telefone waren tot, Presse und Rundfunk stellten jegliche Berichterstattung ein, vom Fernsehbildschirm flimmerte nur silbriger Schnee statt der gewohnten Bilder. Post, Eisenbahn und Schwerindustrie wurden unter direkte militärische Verwaltung gestellt, Schulen und Universitäten zur Einstellung ihres Betriebs gezwungen, Kinos, Theater und Unterhaltungslokale geschlossen. Dieser eiskalte, stürmische Sonntag war überall erfüllt von zwei ganz charakteristischen Tönen: den Schlägen der Kirchenglocken und dem Sirenengeheul der bestreikten Betriebe, die – meist bar ihrer mittlerweile verhafteten „Solidarność“-Führung – wilde Protest- und Besetzungsaktionen durchführten, bis sie unter die blau-schwarz uniformierte Walze der mobilen Polizeieingreiftruppe gerieten. Nach wenigen Tagen waren die meisten Betriebe „befriedet“, den Verhaftungs- folgten Entlassungswellen. Bis Ende Dezember lag die Kontrolle über das Land in den Händen der Generäle. Der Kriegszustand spaltete die Gesellschaft aber nicht einfach entlang der Linie Partei-Volk. Der Riß verlief komplizierter, trennte nicht selten Vater und Sohn, Bruder und Schwester. Aber er brachte auch die „Solidarność“ selbst auseinander: Nach den großen Verhaftungswellen im Dezember 1981 kam eine neue, junge, zornige Führung ans Steuer, die mit ungestümen Protesten ihre kompromißlos antikommunistische Haltung markierte, bald aber einsehen mußte, daß dieser Krieg auf der Straße nicht zu gewinnen war. Allerdings blieb das Kriegsrecht bis zum 31. Dezember 1982 in Kraft, dann wurde es ausgesetzt und offiziell am 22. Juli 1983 aufgehoben. Erst Mitte der achtziger Jahre fanden die Aktionisten zu einer Neubesinnung und bildeten die ersten Ansätze einer demokratischen Rechten. Ihr wilder Aktionismus der ersten Wochen verschwand bald, die Protestenergie suchte – und fand – ihre Zuflucht in den Räumen der Kirche, die mit ihrer Mittlerrolle zum wichtigsten Sprachrohr der Gesellschaft gegenüber den Kommunisten wurde. In der Stille und Abgeschiedenheit von Pfarreien und Gebetsräumen formierte sich eine Gegengesellschaft mit Untergrundpresse, alternativen Bildungsangeboten und antiautoritärem Lebensethos. Die Kompromißlosigkeit gegenüber dem (Post-) Kommunismus – ein Markenzeichen der polnischen Rechten – sollte aber bleiben und Ende der achtziger Jahre zum Bruch mit dem gemäßigten „Solidarność“-Flügel um Lech Wałęsa führen, der 1989 zuerst Gespräche mit Jaruzelski aufgenommen und später dann die Macht in Polen übernommen hatte. Gefahr eines sowjetischen Einmarsches bestand kaum Seine nachhaltigste Wirkung erlebte aber der Kriegszustand paradoxerweise in den neunziger Jahren. Die Generale hatten 1981/82 als Wirtschaftsführer komplett versagt und mußten den zwar begrenzten, aber stark aufstrebenden und innovationsfreundlichen Kleinkapitalismus zulassen. Dieser hatte innerhalb eines knappen Jahrzehnts die polnische Gesellschaft wesentlich verändert, der Aufteilung in Arme und Reiche stark vorgearbeitet und diese nach dem Zusammenbruch des Kommunismus geradezu zementiert. 1989, am Vorabend des Mauerfalls, war die polnische Gesellschaft nur noch nominell sozialistisch, ihr soziales Gleichgewicht längst nicht mehr gegeben. Die nach 1989 etablierte neue politische Ordnung war also in wirtschaftlicher Hinsicht nur noch eine nachholende Revolution. Nach 25 Jahren und dem Zusammenbruch des Kommunismus bleibt die Frage der persönlichen Verantwortung der damaligen Akteure. Neuere Funde in den einschlägigen Partei- und Sicherheitsarchiven belegen eindeutig, daß die politische Führung in Warschau 1981 zwar unter Moskauer Druck stand, die Gefahr eines sowjetischen Einmarsches aber nicht unbedingt bestand. Die Generalität handelte eher im vorauseilenden Gehorsam aus einem Motivgeflecht von kommunistischer Treue und privater Besitzstandswahrung. Die aus diesen Kreisen vielfach beschworene soldatische oder gar nationale Pflichterfüllung gehört ins Märchenreich. Foto: Führung um General Jaruzelski im Warschauer Sejm, 21. Mai 1982: Märchen der Pflichterfüllung
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