Am Dienstag, dem 23. Januar 1945, zogen Russen, aus dem nordwestlichen Teil des oberschlesischen Gleiwitz kommend, die Stadtwaldstraße entlang, zur Bergwerkstraße hin. Von dort marschierten sie in Richtung Hindenburg. In den ersten Tagen der Besetzung herrschte chaotisches Durcheinander, Angst und Ungewißheit. Aus einem Befehl der russischen Kommandantur vom 31. Januar 1945 ging hervor, daß sich alle Männer zwischen 18 und 50 Jahren zwecks Registrierung zu melden hätten, so auch unser 48jähriger Vater. Zunächst wurden die Registrierten in einem Lager bei den Hüttenwerken festgehalten. Aus einem Brief unseres Vaters vom 5. März 1945 erfuhr Mutter, daß die Internierten weiter nach Laband, sieben Kilometer von Gleiwitz entfernt, verfrachtet wurden. Er machte sich Gedanken, ob die Familie noch in der Leipziger Straße wohnte und ermahnte meinen 16jährigen Bruder Erich, zu Hause zu bleiben. „Es werden sogar 54jährige, die aus dem Wagenwerk aus der Arbeit gingen, hier eingeliefert.“ Am 28. Februar hatten die Gefangenen am Labander Bahnhof Holz geschnitten. „Das Essen ist sehr schlecht. Einen halben Liter dünne Suppe und 500 Gramm Brot ist herzlich wenig. Bis gestern habe ich noch Kartoffeln gehabt, aber jetzt ist Schluß“. Er schrieb ferner, daß es Gerüchte gebe, aber keiner wisse etwas Genaues. Unsere Mutter versuchte mehrmals Verbindung aufzunehmen, ihm Lebensmittel zukommen zu lassen oder wenigstens ein Wort des Trostes zu übermitteln. Nichts gelang. Die Wachmannschaften verhinderten jeden Kontakt. Ende Februar 1945 quartierte sich ein sowjetischer Soldat in unserer Wohnung ein. Meine Mutter hatte zunächst große Bedenken. Der etwas korpulente Russe sollte sich als Glücksfall für den Rest der Familie erweisen. Er sprach gut deutsch, bot der Familie Schutz vor polnischen Übergriffen und schenkte Mama ab und zu Brot und Speck. Im März bat sie ihn, sich für die Freilassung meines Vaters aus dem Labander Zwangslager einzusetzen, was dieser gute Mensch auch tat. Leider zu spät, denn am 15. März stellten die Russen einen Transport zusammen und brachten die Männer in Eisenbahnwaggons nach Budjanowka ins Lager 1055/7280 bei Stalino. Zunächst als Maschinist arbeitend, waren die Strapazen noch zu ertragen. Anders die harten Bedingungen in der Grube, unter Tage. In zweihundert Meter Tiefe schuftete er täglich mehr als zehn Stunden. In einem seiner Briefe hieß es: „Unsereins wird es kaum noch aushalten. Wir leben wohl, aber besitzen keine Kräfte. Früh morgens bekommen wir einen halben Liter Tee, Wassersuppe und 1.000 Gramm Brot für den ganzen Tag und dieses ist schwer wie die Erde. Mittags, wenn wir aus der Arbeit kommen, gibt es wieder einen halben Liter Sauerkrautsuppe, ein bis zwei Eßlöffel Graupen und etwas Fleisch oder Fisch. Abends wieder einen halben Liter Sauerkrautsuppe und ein bis zwei Eßlöffel Graupen…“ Vater machte sich Sorgen, wie Mutter wohl die Kinder ernähren würde. „Noch einmal wünsche ich mir nach Hause zu Euch zu kommen und ein neues Leben zu führen“. Es war der einzige Brief, der die Familie aus dem Lager erreichte. Der qualvollen Schwerstarbeit und der spärlichen Verpflegung sollte er am 1. Februar 1947 erliegen, wie wir erst später durch die Deutsche Kriegsgräberfürsorge erfuhren. „Ständige Beobachtung“, Tusche: „Sowjetische Panzer hatten ihre Geschütze ausgefahren und schossen auf den Zug“
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