Der Zweite Weltkrieg in Europa war beendet. Es brach der „Nachkrieg“ aus! Das Leben in Reichenberg, Hauptstadt des Sudetenlandes, war lange vom Krieg verschont geblieben. Silbern glitzernde Bomber hatten uns überflogen; mein Vater war zum dritten Male Soldat geworden. Im Winter 1945 fanden serbische Flüchtlinge Herberge bei uns. Der Krieg gehe verloren, flüsterte man sich zu. Panzersperren und Schützengräben wurden errichtet. Die Angst vor der Roten Armee zog langsam, aber sicher ein. Es wurde Mai. Am Abend kamen wir aus dem Kino. Der Farbfilm „Kolberg“ lief. Beim Auseinandergehen verlautete: Reichenberg zur Festung erklärt. Der Zivilbevölkerung wird nahegelegt, die Stadt zu verlassen. Am nächsten Tag sprach der von Hitler testamentarisch zu seinem Nachfolger ernannte letzte Reichspräsident Karl Dönitz. Unsere Mutter mit drei Kindern nahm eine Mitfahrgelegenheit mit Holzvergaser-LKW nach Kriegern im westlichen Böhmen wahr. Bei strahlendem Frühlingswetter fanden wir uns in einer Wagenkolonne ohne Anfang und Ende wieder. Kein Luftangriff störte. Doch dann Fliegeralarm! Aber es waren deutsche Stukas, die langsam im Tiefflug nach Westen flogen. Aufatmen. Endlich erreichten wir Leitmeritz an der Elbe. Doch russische Panzerspitzen verwehrten den Übergang. Kehrtwendung zurück. Die nächste Elbbrücke war schon im Protektorat. Dort aber lief der tschechische Aufstand an. Fahrt durch die Nacht, Richtung Elbübergang Wegstädtl. Doch dort hatte man eine Brücke nur geplant, ein Brückenjoch eingerammt. Jetzt erst brach die strickte Ordnung langsam zusammen. Friedensgeläut. Russische Panzer fuhren durch. Dann kamen polnische Truppen, plünderten. Wir fanden mit anderen Flüchtlingen Unterschlupf bei Verwandten im Geburtsort meines Vaters. Wir ernährten uns von Kartoffeln und sehr viel Spargel ohne Butter. Vierzehn Tage später. Der amtierende tschechische Nationalausschuß genehmigte die Rückfahrt mit der Bahn. Bombenzerstörte Städte, liegengebliebene deutsche Panzer. Deutsche Zwangsarbeiter, ein Hakenkreuz auf die Jacken gepinselt. Schlesische Flüchtlinge, die nach Hause wollten, an der Sperre ausgeplündert. Zurück: Unsere Wohnung war unversehrt. Wenig später klingelt es: „Mir ist diese Wohnung zugeteilt.“ Doch meine Mutter antwortet geistesgegenwärtig auf „kuchelbötzmisch“ (gebrochen tschechisch) zurück. Zeigt ihm einen Brief ihrer Schwester aus dem Konzentrationslager Ravensbrück. So schützte uns ausgerechnet ein deutscher KZ-Brief vor einem der 176 tschechischen Konzentrationslager. Der Hunger biß. Für uns Deutsche gab es Lebensmittelkarten in tschechischer Sprache. Aber radikal gekürzt und mit dem blauen Überdruck „Deutsche“ (in Fraktur). Während des Krieges waren die tschechischen Rationen den deutschen gleichgestellt. Im September 1945 reisten wir mit Genehmigung zum Hopfenpflücken in das Gebiet nördlich von Pilsen, nach Kriegern auf dem Hof des Bruders meiner Mutter. Vier sowjetische Offiziere waren einquartiert und verhielten sich einwandfrei. Im November 1945 zogen die russischen „Befreier“ dann nach Hause. Jetzt übernahmen die befreiten Tschechen den Hof (sie kamen aus Wolhynien). Doch durften wir im Ausgedingehaus (hölzernes Wohnhaus mit Scheuer; Anm. d. Red.) ohne Strom bis ins Jahr 1948 wohnen bleiben. Auch durften wir dann vom Logenplatz der „humanen Aussiedlung“ zusehen. Drei Jahre lang blieb ich ohne Schulunterricht, las zweiundzwanzig Bände Weltgeschichte (ich kam bis zum Jahre 1805) und züchtete nebenbei Kaninchen. Im Juni 1948, am Vorabend der Währungsreform, nach dem kommunistischen Umsturz, durften wir dann die Heimat verlassen und zum Vater finden. Karl Mauder, Idstein