Keine anglo-amerikanische Modetorheit, die nicht mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung und mit teutonischem Bierernst auch hierzulande umgesetzt würde. Der schillernde Euphemismus der „multikulturellen Gesellschaft“ bildet da keine Ausnahme. Vor ziemlich genau einem Vierteljahrhundert hat das Schlagwort den deutschen politischen Diskurs erreicht. Grund genug, in der Stunde des manifesten Scheiterns dieser Utopie Rückschau auf ihre Anfänge und ihre seitherige Ausbreitung zu halten. Es war wohl 1978, als der Kirchenrat der EKD für Ausländerfragen, Jürgen Miksch, seine Position als Redenschreiber des damaligen hessischen Ministerpräsidenten Holger Börner dazu nutzte, um den Begriff „multi-cultural“ auf deutsche Verhältnisse zu übertragen. In den Achtzigern wurden die Kirchen die Hauptprotagonisten des Multikulturalismus. 1980 gaben sie zum Tag des ausländischen Mitbürgers das Motto aus: „Verschiedene Kulturen – gleiche Rechte. Für eine gemeinsame Zukunft“ und erklärten Deutschland zur „multikulturellen Gesellschaft“. Unvermeidliche Diversität in etwas Positives umdeuten „Multikulturell“ war freilich schon damals eine Umschreibung für politisches Scheitern, die praktisch bedeutete: Wenn es einem Einwanderungsland nicht gelingt, Einwanderer zu assimilieren, soll es eben die dann unvermeidliche Diversität in etwas Positives umdeuten. Für die klassischen Einwanderungsländer wie USA, Australien oder Kanada hieß das: Abschied nehmen von der Konzeption des Schmelztiegels, dem gewünschten Aufgehen aller Einwanderergruppen in einer neuen Nation, und sich mit den zunehmenden Abschottungstendenzen von Einwanderern abfinden, die sich nicht mehr in erster Linie als Australier, Amerikaner oder Kanadier verstehen wollen. Entstanden ist der Begriff Anfang der sechziger Jahre in Kanada; in Australien tauchte er 1968 in den Medien auf. Beide Länder erhoben „Multikulturalität“ 1971 (Kanada) bzw. 1977 (Australien) zur offiziellen Richtlinie der Politik. Statt Assimilierung zu verlangen, wollte man nun Einwanderern, die sich nicht mehr anpassen wollen und statt dessen auf Respektierung ihrer nationalen und kulturellen Identität beharren, entgegenkommen, um Rassenunruhen und bürgerkriegsähnliche Zustände wie in den USA zu vermeiden. Ein Trugschluß: Der Preis für den Verzicht auf Assimilierung ist letztlich der Zerfall der Gesellschaft, resümierte der liberale Kritiker Arthur M. Schlesinger, ein erklärter Verfechter der „Schmelztiegel“-Theorie, unter dem Eindruck der Rassenkrawalle Anfang der Neunziger in seinem Warnruf „The Disuniting of America“. Das Konzept der „multikulturellen Gesellschaft“ ist also eine resignative Verlegenheitslösung. Diesen Hintergrund blendeten die deutschen Adepten der multikulturellen Ideologie bewußt aus. Ihnen ging es vielmehr darum, einen klassischen demokratischen Nationalstaat mit klar umrissenem Volkssouverän dauerhaft in eine Einwanderungsgesellschaft zu verwandeln. Zu diesem Zwecke wurde die Fehlentwicklung in den traditionellen Einwanderungsländern mit Hilfe des doppelten Euphemismus „multikulturell“ zum Ideal erklärt. Der erste Euphemismus besteht in der verharmlosenden Verwendung des Begriffes „Kultur“ anstelle von „Völkern“ oder „Rassen“. Heiner Geißler malte sich in seinem Buch „Zugluft – Politik in stürmischer Zeit“ im Wendejahr 1990 die erhoffte „kulturelle Bereicherung“ in den leuchtendsten Farben aus: ein buntes, friedliches Nebeneinander der „Kulturen“, wo jeder mit jedem oder jeder könne; noch erinnerlich ist seine – bekanntlich umgehend umgesetzte – Empfehlung, ein Star wie Boris Becker könne doch als Vorbild für die Jugend mit einer Farbigen liiert sein. Multikulturalismus als ein nützliches Karrierevehikel Die Vorsilbe „multi“ ist der zweite Euphemismus. Er beruht auf der simplen Verwechslung von Qualität und Quantität. Die Addierung von „Kulturen“, die nichts anderes als ethnische Wertesysteme sind, führt im günstigsten Fall zur Nivellierung auf niedrigerem Niveau, im ungünstigsten zu Konflikt und Bürgerkrieg. Ergebnis ist also ein „Weniger“ und nicht ein „Mehr“ an Kultur, wie der Soziologe Robert Hepp in seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem Multikulturalismus, „Multa non multum“, dargelegt hat. Das Ergebnis ist nicht nette rein „kulturelle“ Vielfalt, sondern eine Revolutionierung der Staatsform. Das erklärte Ziel der Beseitigung der ethnischen Homogenität der Bevölkerung führt konsequent zum Austausch des Souveräns. Bezeichnend untertitelt der zwischenzeitlich paradoxerweise zum Kronzeugen der Verfassungsschützer avancierte Claus Leggewie seinen 1990 erschienenen „Rotbuch“-Band „Multikulti“ mit „Spielregeln für die Vielvölkerrepublik“. Heikle Fragen wie die, inwieweit eine solche „Vielvölkerrepublik“ überhaupt unter das nationalstaatliche Verfassungsdach der Bundesrepublik Deutschland paßt, wurden mit Schlagworten wie Daniel Cohn-Bendits „multikultureller Demokratie“ zugetüncht. Großen Raum für Skepsis gab es im öffentlichen Diskurs auch gar nicht. Nach dem Scheitern der staatlich realisierten kommunistischen Utopie in der DDR und Osteuropa machte die multikulturelle Utopie um so raschere Karriere. Auch für seine Ideologen war der Multikulturalismus ein nützliches Karrierevehikel. Den grünen 68er-Revoluzzer Cohn-Bendit trug seine Vordenkerschaft nach dem rot-grünen Kommunalwahlsieg in Frankfurt 1989 auf den eigens für ihn geschaffenen Sessel eines „Dezernenten für multikulturelle Angelegenheiten“. Der durchschlagende Erfolg der ersten großen Kampagne „gegen Rechts“ verhalf dem Multikulturalismus zu allgemeinem Siegeslauf. Das Unbehagen des Staatsvolkes über seine geplante Auswechselung wurde im Kerzenschein der Lichterketten marginalisiert. Die Grundbekenntnisse des Multikulturalismus gelten weitgehend unhinterfragt. So mußte der aus den Reihen von CDU/CSU unternommene Versuch, mit dem Konzept der „Leitkultur“ ein Gegenmodell zum Multikulturalismus zu entwickeln und faktisch Assimilation wieder zur Voraussetzung verträglicher Einwanderung zu machen, kläglich scheitern. Die mangelnde Konsequenz ist noch heute, im Angesicht des Scheiterns der multikulturellen Illusion, manifest: Was an Vorschlägen zur Meisterung der Krise diskutiert wird, geht selten über die zaghaften Einschränkungen hinaus, die schon Geißler 1990 in einem Sammelband-Beitrag formuliert hat: Multikulturelle Gesellschaft bedeute, Einwanderer „nicht germanisieren“ oder assimilieren zu wollen, „sondern ihnen, wenn sie es wollen, ihre kulturelle Identität zu lassen, aber gleichzeitig von ihnen zu verlangen, daß sie die universellen Menschenrechte und die Grundwerte der Republik achten und zweitens die deutsche Sprache beherrschen“. Assimilierung der Willigen -Entfernung der Unwilligen Über solchen gutgemeinten Appellen wurde die tägliche Widerlegung des multikulturellen Schönwetterkonzepts in den Ghettos und Parallelgesellschaften der Großstädte lange Zeit vorsätzlich übersehen, bis die Mordtat eines eingebürgerten Einwanderers in Holland zum Hinschauen zwang. Selbst bei den Innenministern Günther Beckstein und Otto Schily setzt sich die Erkenntnis durch, daß derartige Gewaltausbrüche auch bei uns möglich sind. Der aus Syrien stammende Politologe Bassam Tibi prophezeit Deutschland in zehn Jahren zehn Millionen nichtintegrierte Muslime und gewalttätige Auseinandersetzungen auf den Straßen. Stimmen, die „Multikulti“ für gescheitert erklären, mehren sich. Die logische Konsequenz aus dieser Lage kann nicht in noch mehr freiwilligen „Integrationsangeboten“ bestehen, sondern nur in Assimilierung der Integrationswilligen und Entfernung der Integrationsunwilligen. Das Konzept einer auf guten Willen und den Verzicht auf Wertehierarchien gegründeten „multikulturellen“ Gesellschaft ist gerade für die Organisation eines Einwanderungslandes ungeeignet – das belegt nach dem Beispiel der USA längst auch schon das europäische. Foto: Der Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit als Stadtrat für Multikulturelles in Frankfurt (1997): Die Addierung von „Kulturen“ führt im günstigsten Fall zur Nivellierung auf niedrigerem Niveau