Seit seinem offenkundigen Scheitern am 20. Juli 1944 kommt die Auseinandersetzung in Wort und Schrift über den militärischen Widerstand in Deutschland nicht zur Ruhe. Nicht nur an den vom Kalender diktierten Gedenktagen werden die Motive der Verschwörer hin und her gewendet, ihre Konzepte im Falle des Gelingens für den Tag danach mit der Weisheit der Nachlebenden gedeutet, Zeitpunkt, Vorbereitung und Ausführung des Attentats und des Umsturzversuchs polemisch erörtert. Überwog bei der Würdigung des Ereignisses auf der „hohen Ebene metapolitischer Symbolik“ (Martin Broszat) zunächst liebenswürdiges bildungsbürgerliches Pathos, etwa in bewegenden Versen von Ricarda Huch oder in der Sprachgewalt von Theodor Heuss („Bekenntnis und Dank“, 1954) und Carlo Schmid („Sie zogen aus, den Drachen zu töten“, 1958), so mischten sich dazu auch Mißtöne, die seit Anfang der siebziger Jahre sogar verschiedentlich bei den Berliner Gedenkfeiern zu hören waren. Der Widerstand – Stauffenberg kannte diesen Begriff nicht, er sprach von Erhebung – wurde weithin mit schlechtem Gewissen betrachtet, auch marginalisiert, diffamiert oder in trivialer Weise dargestellt, letzteres gewiß in bester Absicht, wie in dem abendfüllenden Film „Stauffenberg“ (gesendet am 25. Februar in der ARD). Nur am Rande auf die Motive der Verschwörer eingehend, rekonstruierte der Streifen eigentlich nur den dramatischen Ablauf des Geschehens. Trotz aller Ehrungen spürt man immer eine Distanz Wenn schon Hitler in der Nacht zum 21. Juli 1944 von einer „ganz kleinen Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich verbrecherischer, dummer Offiziere“, einem „ganz kleinen Klüngel verbrecherischer Elemente“ gewütet hatte, sah auch der Militärhistoriker Manfred Messerschmidt, allerdings in anderem Zusammenhang, 1981 den Widerstand nur als „eine Episode im Gesamtverhältnis der Wehrmacht zum NS-Staat“ an, nachdem Hitler auch quantitativ (was den Umfang der Verschwörung angeht) längst widerlegt war. Diffamiert wurde der 20. Juli von Anfang an von Göring, vom Großadmiral Dönitz, dem „Reichsorganisationsleiter“ Ley, bald nach Kriegsende vom Generalmajor a.D. Otto Ernst Remer („Diese Verschwörer sind zum Teil in starkem Maße Landesverräter gewesen, die vom Ausland bezahlt wurden“, 1951) und anderen, die dies und noch Schlimmeres nachplapperten. Die üble Nachrede kommt auch wissenschaftlich verbrämt daher, wenn entgegen den Tatsachen suggeriert wird, den angeblich meist antisemitisch eingestellten Verschwörern sei die Vernichtung der europäischen Juden eher gleichgültig gewesen, auch die moralisch-ethische Komponente im militärischen Widerstand könne als nachrangig angesehen werden, oder wenn Christian Gerlach in eigenwilliger Quelleninterpretation gegen Henning von Tresckow und andere Mitverschworene massive Vorwürfe erhebt, sich billigend und unterstützend an Massenverbrechen in der Sowjetunion beteiligt zu haben. Eugen Gerstenmaiers Klage im Jahre 1964 erscheint nur allzu berechtigt, noch sei „in diesem Lande nicht jeder willens oder fähig zu erkennen oder zuzugeben, daß es Patrioten waren, die es unternahmen, die Herrschaft der Hakenkreuzler in Deutschland zu vernichten.“ Noch immer müsse „auf jede Gemeinheit gefaßt sein, wer es unternimmt, den allzu Dreisten die Stirn zu bieten“. Trotz aller jährlichen Gedenkfeiern, vieler bemerkenswerter Ansprachen von bleibendem Wert, gehalten von Bundespräsidenten, Ministern, Gelehrten, Generalen, einer Flut von Gedenkartikeln und ernstzunehmender, wissenschaftlich fundierter Literatur zum Thema hat, wie es der Tübinger Professor für christliche Gesellschaftslehre Ernst Steinbach 1968 ausdrückte, der Widerstand „keine wirkliche Heimat im Herzen des Volkes gewonnen. Wir sind kein politisches Volk geworden, sondern begnügen uns wiederum mit einer bloß privaten Existenz, der die gespenstige Abstraktheit unserer politischen Routine entspricht“. Woher rührt diese Distanz? Der längst, aber zu Unrecht vergessene Journalist Bernhard Guttmann hat schon 1949 in der von ehemaligen Mitarbeitern der alten Frankfurter Zeitung herausgegebenen Zeitschrift Gegenwart eine beklemmende Antwort darauf gefunden, vor vielen besserwisserischen, redlichen oder weniger redlichen Debatten um den deutschen Widerstand. Von den Männern des 20. Juli 1944 seien „viele gewiß keine Demokraten“ gewesen, „aber sie besaßen die elementare Charakterkraft, die Nein sagt, in viel höherem Grade als der anständige Landesdurchschnitt. Denn das schwer zu Ergründende sind ja nicht die Verbrecher, die regiert haben, sondern die anständigen Leute, die sich regieren ließen“. Obwohl alle anderen Staatsdiener, Juristen, höhere Beamte aller Verwaltungsstufen, Lehrer aller Schularten, Universitätsprofessoren nach ihrem mehr oder weniger glücklichen Übergang in die freiheitlich-demokratische Grundordnung Anlaß genug gehabt hätten, sich Guttmanns Gedanken zu eigen zu machen, ist ausgerechnet und beinahe unisono, den Soldaten insgesamt und individuell eine Auseinandersetzung mit der Problematik des 20. Juli auferlegt worden. Noch bevor die Frage einer Beteiligung Westdeutschlands an gemeinsamen europäischen Verteidigungsanstrengungen akut wurde, haben aber viele ehemalige Soldaten aller Dienstgrade aus eigenem Antrieb in einer Zerreißprobe durchdacht, wie es zur Unterwerfung des Militärs unter Hitlers Herrschaft kam, welche Folgen bis hin zum Attentat auf den „obersten Kriegsherrn“ sich daraus für das herkömmliche soldatische Selbstverständnis ergaben. Sie schufen damit eine Voraussetzung für die lange anhaltende Debatte nicht nur über die künftige Stellung des Militärs, der „Staatsbürger in Uniform“, in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat, sondern auch über durchaus neue denkbare Spannungen zwischen Gehorsam und Gewissen etwa angesichts des möglichen Einsatzes atomarer Kampfmittel. Auseinandersetzungen bis in die sechziger Jahre Es ist das Verdienst des Admirals a.D. Gottfried Hansen, 1951 bis 1956 Vorsitzender des Verbandes deutscher Soldaten (VdS), eine erste vermittelnde Formel zur Problematik des 20. Juli 1944 gefunden zu haben, die sich an „Eidgetreue“ und die anderen wandte, die in Kenntnis aller Vorgänge die Treue zu ihrem Volk über die Eidespflicht gestellt hätten. Keinem sei aus seiner Einstellung ein Vorwurf zu machen, „wenn nicht Eigennutz, sondern ein edles Motiv sein Handeln bestimmt hat. Er bat darum, „daß man Verständnis für die Handlungsweise des anderen aufbringen muß“. Es bleibt allerdings offen, wie viele positive Denkanstöße diese weit verbreitete Erklärung vom März 1951 vermittelt hat. In bewundernswerter Gelassenheit haben sich später auch hochrangige Angehörige der Bundeswehr, darunter einige, die dem Widerstand nahegestanden und das Glück hatten, der Verfolgung zu entrinnen, sich an der internen Debatte in den Streitkräften zur Klärung der unterschiedlichen Standpunkte beteiligt. Diese mitunter sehr scharfen Auseinandersetzungen hielten bis etwa zum Ende der sechziger Jahre an, als die letzten Zeitgenossen der Vorgänge den aktiven Dienst verließen. Die in großer Auflage seit 1956 in den Streitkräften verbreitete Schrift des Majors Trentzsch: „Der Soldat und der 20. Juli“, der in seiner Wertung schon über die Hansen-Formel hinausging und besonders die Gewissensentscheidung der Verschwörer hervorhob, die demonstrative Benennung von Kasernen nach „Verschwörern“, das waren Kundgebungen „von oben“, die – wie grundsätzliche Ansprachen der Generale Graf Kielmansegg (1963, 1967), Graf Baudissin (1964), Meyer-Detring (1966) und anderer – keinen Zweifel am Bekenntnis der Bundeswehr zum Widerstand ließen. Als Zeitgenossen äußerten sie dabei Verständnis (im Sinne der Hansen-Formel) für die vielen, die weiter guten Glaubens ihre Pflicht erfüllt hatten, unterstrichen aber deutlich, daß der 20. Juli als „Aufstand des Gewissens“ vorrangig zum unveräußerlichen gültigen Erbe der Bundeswehr zähle. Sie knüpften dabei unmißverständlich an den Aufruf des ersten Generalinspekteurs der Bundeswehr an, General Heusinger, der zum 15. Jahrestag das Geschehen als „einen Lichtpunkt in der dunkelsten Zeit Deutschlands“ gewürdigt hatte. „Freiheitlich gesinnte Kräfte aus allen Lagern“, in vorderster Front Soldaten hätten sich in christlich-humanistischem Verantwortungsbewußtsein zum Sturz des Tyrannen entschlossen. Ihr Gewissen sei durch ihr Wissen aufgerufen worden: „Ihr Geist und ihre Haltung sind uns Vorbild“. Sie machten sich aber auch Heusingers Warnung zu eigen (Richtlinien für die Erziehung 1959/60), aus „einer einmaligen Ausnahmesituation“, nämlich vom Absturz in den totalen Unrechtsstaat, seien „keine Normen des Handelns für den militärischen Alltag im freiheitlichen Rechtsstaat herzuleiten“. Gewiß sind Richtlinien, Reden, Schriften und Vorträge nicht ohne weiteres Allgemeingut der Truppe, ihre Wirkung ist schwer auszumachen (Heinz Karst 1982). Die Öffentlichkeit nahm sie jedoch beruhigt zur Kenntnis, reagierte aber sensibel, wenn auch nur geringfügige Abweichungen von der offiziellen Lehrmeinung laut wurden. So eckte 1982 ein Oberst der Fallschirmtruppe an, als er bei einem Bataillonsappell ein Unbehagen an „weithin ungeliebten Gedenkstunden“ artikulierte und vor der „Ideologisierung und Politisierung“ dieses historischen Ereignisses warnte. Und 1985 entlud sich über einem Brigadegeneral in Kiel ein Mediengewitter, als er bei der Eröffnung einer Ausstellung des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes zu bedenken gab, eigentlich sei es trotz der furchtbaren Opfer des letzten Kriegsjahres gut, daß das Attentat mißlungen sei. Denn die Deutschen hätten bei einem Gelingen (und den unabsehbaren Folgen) „wieder mit einer Dolchstoßlegende leben müssen, mit der wir vielleicht niemals fertig geworden wären“ – ein Gedankengang, der in den Erwägungen der Verschwörer vor dem 20. Juli immerhin eine beachtliche Rolle gespielt hat. So plagte sich die Bundeswehr redlich „immer noch mit dem 20. 7. 1944 ab, weil letzten Endes noch niemand beschrieben hat, in welcher blutrünstigen Atmosphäre, die nun durch Holocaust hinreichend erleuchtet ist, jenes Ereignis, sein Vor- und Nachspiel abrollte. Man kann, mit anderen Worten, aus der damaligen Massenwahnatmosphäre nicht extrapolieren, deduzieren und Normen aufstellen“ (Axel von dem Bussche, 1983). Im zweiten Jahr des Aufbaus der Bundeswehr sorgte sich der Unterabteilungsleiter „Innere Führung“ im Verteidigungsministerium, Oberst Graf Baudissin, „wir müssen den schmalen Grat halten zwischen dem allzu frühen Vergessen und dem Zur-Routine-Werden“ (2. Juli 1957). Vom Vergessen des Datums kann keine Rede sein – die Routine ist jedoch inzwischen eingekehrt. Auch das Gedenken wurde inzwischen europäisiert Aufgrund des Viermächte-Status von Berlin war die Anwesenheit der Bundeswehr bei den Feiern im Bendlerblock und in Plötzensee seit 1958 kontingentiert, die für die Soldaten maßgebenden Reden wurden lange in Bonn gehalten. Seit 1991 findet nun in Berlin bei den Gedenkfeiern nicht nur ein militärisches Zeremoniell statt, nicht zur reinen Freude der Hinterbliebenen, wie es heißt, sondern die Bundeswehr hat dort auch das seltsame integrale Widerstandskonzept des Professors Peter Steinbach vor Augen. Davon mit Recht kaum beeindruckt, und in dem instinktiven Gefühl, daß zum 20. Juli nun in sechzig Jahren schon alles gesagt worden ist – wenn vielleicht auch noch nicht von jedem -, wurde das mit einem jährlich stattfindenden „öffentlichen Gelöbnis“ verbundene Gedenken inzwischen gleichsam europäisiert, durch Reden des polnischen Staatspräsidenten (2002) und der französischen Verteidigungsministerin (2003). Es kennzeichnet den geistigen Zustand der Bundesrepublik Deutschland, daß diese Veranstaltungen nur unter massivem weiträumigen Schutz von Polizei und Feldjägern stattfinden können. So ist der 20. Juli unversehens zum eigentlichen Fixpunkt der Bundeswehr geworden, abgesehen vom seltsam gleitenden Gründungsdatum (Bonn, 12. November 1955, Ernennung der ersten Freiwilligen; Andernach, 20. Januar 1956). Wie sieht die Zukunft dieses Tages aber aus, sollte sich in absehbarer Zeit die Struktur der Bundeswehr hin zu einer Freiwilligen-Armee entwickeln? Eine Anregung an die Verwalter des Konzepts „Staatsbürger in Uniform“. Dr. Georg Meyer arbeitete als Historiker beim Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA). 2001 veröffentlichte er die Biographie „Adolf Heusinger“ im Verlag Mittler & Sohn.