In ihrem Kampf gegen ein Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin geht die SPD geschichtspolitisch in die Offensive. Auf einer Veranstaltung der Historischen Kommission des SPD-Parteivorstands mit dem Titel „Vertreibungen im 20. Jahrhundert. Geschehen und Vergegenwärtigung“ im Willy-Brandt-Haus, ihrer Berliner Parteizentrale, demonstrierte sie am 11. Dezember ihren Willen, die Deutungshoheit über das Thema zu gewinnen und ein postnationales Geschichtsbild durchzusetzen. Aufgeboten wurden hierzu renommierte Wissenschaftler, Politiker und Publizisten aus dem In- und Ausland. Bereits die Einführung durch Bundestagspräsident Wolfgang Thierse und den Vorsitzenden der Historischen Kommission, Bernd Faulenbach, ließ die Stoßrichtung der Veranstaltung klar erkennen, ein nationales Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin um jeden Preis zu verhindern. Thierse lehnte die von der Stiftung um Erika Steinbach und Peter Glotz vertretene Konzeption mit der Begründung ab, diese sei „nicht völkerverbindend“. Er warf der Initiatorengruppe vor, sie habe mit ihren Plänen für ein rein nationales Projekt in den östlichen Nachbarländern alte Wunden aufgerissen. Thierse sprach sich vehement für ein Zentrum mit europäischer Ausrichtung aus. Die „national verengte Perspektive“ müsse überwunden und eine „europäische Erinnerungskultur“ entwickelt werden. Es geht also um den Abschied von einem genuin deutschen Geschichtsbild. Thierse betont die kollektive Verantwortung der Deutschen Einmal mehr wurde erkennbar, daß Thierse sich eine subtilere Variante der Kollektivschuldbehauptung gegenüber dem deutschen Volk – kollektive „Verantwortung“ für die Verbrechen des Nationalsozialismus – zu eigen macht. In diese Richtung zielte auch seine Kritik an dem Gesamtkonzept des geplanten Zentrums, dem er eine mangelnde Einordnung der Vertreibung der Deutschen in den historischen Kontext unterstellt. Tendenziell lief seine Argumentation auf eine indirekte Rechtfertigung der Vertreibung der Deutschen mit dem Hinweis auf zuvor von Deutschen begangene Verbrechen hinaus. Sehr viel differenzierter gab der amerikanische Historiker und Osteuropa-Experte Norman Naimark, Professor an der Stanford University, einen Überblick zum Thema Vertreibung, zur Idee und Realisierung ethnischer Säuberungen. In seinem Vortrag „Flucht und Vertreibung in Europa im 20. Jahrhundert“ stellte er die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches und dem Sudetenland als direkte Folge des Krieges dar. Anders als es heute in Polen und Tschechien oft behauptet wird, sei sie von den dortigen Regierungen organisiert, wenn auch durch alliierte Beschlüsse ermöglicht und abgesegnet worden. Naimark ging detailliert auf den 1992 im Zuge der Auflösung Jugoslawiens (vor allem bezogen auf die Ereignisse des Bosnienkrieges) aufgekommenen Begriff der „ethnischen Säuberung“ ein. Es gelte klar zwischen Genozid und ethnischer Säuberung zu unterscheiden, auch wenn beide Phänomene ineinander übergehen könnten. Er nannte in diesem Zusammenhang Armenien 1915, Griechenland 1923, den Holocaust sowie die Deportation der Tschetschenen und Krimtataren durch Stalin 1944. Er lehnte es ab, mit Blick auf die Vertreibung der Deutschen verharmlosend von einem „Bevölkerungstransfer“ zu sprechen. Kennzeichen ethnischer Säuberungen seien die Beteiligung von Armee und Paramilitärs, die Enteignung und Ausraubung der Vertriebenen. Fast immer sei das Vertreibungsgeschehen mit Gewalt gegen Frauen verbunden, wie gerade das Beispiel der Deutschen mit massenhaft vorkommenden Vergewaltigungen und Zwangsprostitution zeige. Darüber hinaus werde durch Tilgung von Inschriften und neue Landkarten versucht, die Erinnerung an die ursprünglichen Bewohner auszulöschen. Im Anliegen, ein Zentrum gegen Vertreibung zu errichten, komme ein berechtigtes Bedürfnis nach Anerkennung zum Ausdruck. Die Vertreibung als zentrales Thema der jüngeren deutschen Geschichte sei viel zu lange ausgeklammert und marginalisiert worden. Er wandte sich jedoch dagegen, die Deutschen in der Konzeption eines Zentrums in den Mittelpunkt zu stellen. Der von dem Historiker und Journalisten Götz Aly gehaltene Vortrag eröffnete weitere Aspekte, als es der Titel „Umsiedlung und Vernichtung im Nationalsozialismus“ zunächst erwarten ließ. Er stellte die Pläne für die großangelegte Umsiedlung von Slawen, um die Ansiedlung von Deutschen zu ermöglichen („Generalplan Ost“), und die schließlich in den Völkermord am europäischen Judentum führende NS-Juden-Politik in den Kontext des nach dem Ersten Weltkrieg im Zuge der Neuordnung Europas nach dem Selbstbestimmungsrecht der Völker von den europäischen Regierungen verfolgten Ziels nationaler Homogenisierung. Lange bevor es in Deutschland dazu kam, seien Juden in Ungarn und Polen diskriminiert und enteignet worden, wobei eine Umverteilung an arme Schichten stattgefunden habe. Der Holocaust sei ein genuiner Bestandteil der europäischen ethnischen Säuberungen. In diesem Zusammenhang wies er darauf hin, daß der Organisator des Holocaust, Adolf Eichmann, als „Referent für Auswanderung und Räumung“ im Reichssicherheitshauptamt zunächst mit Aussiedlungsplänen (u.a. dem sogenannten „Madagaskar-Plan“) befaßt gewesen sei. Die von Deutschland besetzten Länder hätten weit größere Handlungsspielräume gehabt, als heute allgemein angenommen werde. In der Tendenz seien zur eigenen Nation gezählte Juden geschützt, die anderen jedoch den deutschen Behörden mehr oder weniger bereitwillig ausgeliefert worden. Fürsprecher für ein Berliner Zentrum in der Minderheit Der Historiker Hans Lemberg stellte in seinem Vortrag „Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten“ ebenfalls darauf ab, daß den Vertreibungen des 20. Jahrhunderts in erster Linie die Vorstellung zugrunde lag, durch Beseitigung nationaler Minderheiten ethnisch homogene Nationalstaaten zu schaffen. Daß im Falle der deutschen Ostgebiete größtenteils fast rein deutsche Gebiete „ethnisch gesäubert“ wurden, kam nicht zur Sprache. Wie Lemberg, der sich für ein europäisches Zentrum aussprach, wandte sich auch Knut Nevermann aus dem Hause von Kulturstaatsministerin Christina Weiss gegen das Konzept des Bundes der Vertriebenen für ein Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin. Es sei konzeptionsmäßig falsch, mißverständlich und überflüssig, trug er die Regierungsposition vor. Als einzige Befürworterin eines nationalen Projektes trat die Journalistin Helga Hirsch in der abschließenden Podiumsdiskussion auf. Es sei von großer Bedeutung für das im Entstehen begriffene neue kollektive Selbstbild der Deutschen. Die zum Teil scharfen Reaktionen in Polen erklärte sie damit, daß die „Korrektur unseres innerdeutschen Selbstbildes“ auch die Polen zum Nachdenken über ihr Selbstbild zwinge. Ihr Kontrahent Markus Meckel nannte ein nationales Zentrum für Polen und Tschechen nicht zumutbar und plädierte erneut für ein gemeinsam entwickeltes Projekt mit Breslau als Standort. Das Konzept der Stiftung sei eine „Fehlgeburt“. Foto: Deportation Sudetendeutscher im Mai 1946 bei Prag: Erinnerung an ursprüngliche Bewohner auslöschen