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Marc Jongen, ESN Fraktion

Aus Zuwanderern werden Autochthone

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Ist Gerhard Schröder der „Kanzler von Kreuzberg“? Den zweifelhaften Ehrentitel verlieh ihm das in Deutschland erscheinende nationalistische Massenblatt Hürriyet nach der letzten Bundestagswahl. Vier Fünftel der wahlberechtigten Türken hatten vor einem Jahr für Rot-Grün votiert. Ihre fast dreihunderttausend Stimmen entsprachen in etwa dem knappen Vorsprung der Koalition. Die Zeitschrift Türkiye forderte daraufhin, nach so vielen türkischen Abgeordneten im Bundestag sei es an der Zeit für den ersten türkischen Minister. Der Vorgang beleuchtet schlaglichtartig, was deutsche Politiker gerne verdrängen: Die türkischen Einwanderer in der Bundesrepublik Deutschland sind längst nicht mehr lediglich ein gewichtiger wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Faktor, sondern in steigendem Maße auch eine bedeutende innenpolitische Kraft. In den Parlamenten auf allen Ebenen – von der Kommunalvertretung bis zum Bundestag – haben eingebürgerte Türken Mandate errungen. Zunehmend selbstbewußt verstehen sie sich weniger als Stimmenbeschaffer für die deutschen Parteien, die sie aufgestellt haben, sondern als Interessenvertreter ihrer Landsleute. Der Marsch der Türken durch die Institutionen der Bundesrepublik hat längst begonnen. Die Vertretung türkischer Interessen eint alle Gruppen Das politische Engagement türkischer Einwanderer in Deutschland steht nicht im luftleeren Raum. Grundlage ist ein reich gegliedertes, oftmals widersprüchliches Geflecht von Organisationen und Vereinen, die von extrem links bis stramm rechts und von explizit laizistisch bis religiös-fundamentalistisch reichen. Waren die ersten Zusammenschlüsse türkischer Einwanderer noch vor allem mit sich selbst und mit konkreten Problemen des Aufenthalts in der Fremde beschäftigt, verschob sich der Fokus mit der Verfestigung des Bleibewillens stetig hin zur Vertretung von Ansprüchen und Interessen gegenüber Staat und Gesellschaft in Deutschland. Die Orientierung an der politischen Landschaft und den Themen der Heimat weicht dabei konsequent der Gestaltung der Politik des Gastlandes. Dachorganisationen bündeln die Tätigkeit dieser Vereine und Organi­sationen. Auf religiösem Gebiet sind die einflußreichsten Strukturen der Verband der Islamischen Kulturzentren in Deutschland (VIKZ) und die Islamische Gemeinschaft Milli Görus (IGMG). Letztere, mit Sitz in Kerpen, ist die zweitgrößte türkisch-islami­sche und größte nicht-staatliche türkische Organisation in der Bundesrepublik Deutschland und soll über 27.000 Mitglieder verfügen. Dagegen ist der VIKZ, der 1980 aus den 1973 in Köln gegründeten „Islamischen Kulturzentren“ hervorgegangen ist, der älteste türkisch-islamische Verband in Deutschland mit 21.000 Mitgliedern und 300 Niederlassungen. Ihre Stärke beziehen beide Organisationen aus ihrem spendenfinanzierten üppigen Potential und den zahlreichen von ihnen betriebenen Moscheen, über die sie beträchtlichen Einfluß auf die religiös orientierte türkische Bevölkerung ausüben. Beide Vereine stehen im Gegensatz zur offiziellen laizistischen Staatsdoktrin der Türkei. Der Konflikt schwindet jedoch nicht erst seit dem Amtsantritt der ersten islamistischen Regierung in Ankara. Die türkische Politik begriff bald Religion als Teil der nationalen Identität und die religiöse Betreuung der Auslandstürken als Mittel zu ihrer Beeinflussung. Die 1984 als Auslandsorganisation der staatlichen türkischen Anstalt für Religionsangelegenheiten gegründete offiziöse und mit einem Etat aus dem türkischen Staatshaushalt ausgestattete DITIB ist mit 776 Ortsvereinen die mit Abstand größte türkisch-islamische Organisation in Deutschland. Schätzungen zufolge repräsentiert DITIB die Hälfte aller türkischen Muslime. Durch die Beteiligung an der schulischen und religiösen Unterweisung junger Türken übt die Organisation beträchtlichen Einfluß auf deren Weltanschauung aus. Der bedeutendste nationalistische Dachverband ist die in Frankfurt ansässige Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Europa (ADÜTDF), besser bekannt als „Graue Wölfe“. 1978 gegründet und 1996 in Deutsch-Türkische Föderation umstrukturiert, bietet die etwa 10.000 Mitglieder starke Föderation jungen Türken eine Heimat durch feste Strukturen, Aufstiegsmöglichkeiten in der Hierarchie und Selbstbewußtsein aus einem übersteigerten türkischen Nationalgefühl. Sie vertritt die These von der „türkisch-islamischen Synthese“ im Sinne des 1997 verstorbenen Führers der Bewegung, Alparslan Türkes: „Das Türkentum ist unser Körper, der Islam unsere Seele. Ein seelenloser Körper ist ein Leichnam.“ Politische Forderungen sind das Kommunal­wahlrecht für Türken in Deutschland und die doppelte Staatsbürgerschaft. Die Föderation rät den eigenen Mitgliedern zur Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft und zum Engagement in Kommunalverwaltungen und Ausländerbeiräten etc. Aus dem Devisenbeschaffer wurde der Lobbyarbeiter Für die türkische Regierung ging es im Umgang mit dem türkischen Vereinswesen in Deutschland lange Zeit nur darum, die eigenen Staatsbürger in der Fremde bei der Stange zu halten und staatsgefährdende Umtriebe einzudämmen. Anfang der neunziger Jahre begriff Ankara den strategischen Wert dieser Strukturen und ging in die politische Offensive. Die Landsleute im Ausland sollten nunmehr in erster Linie Lobbyarbeiter statt Devisenbeschaffer für die Heimat sein, war die Parole. Ihre Aufgabe: Den „Kampf gegen den Terrorismus“ (nämlich den kurdischen) „nicht nur im Inland, sondern auch im Ausland – insbesondere in Europa – zu führen“, wie es die damalige Ministerpräsidentin Tansu Ciller ausdrückte. Zentrum der Aktivitäten war natürlich Deutschland, wo die meisten Auslandstürken leben. Auf Initiative des türkischen Botschafters wurden Bündnisse zwischen türkisch-nationalen Organisationen geschmiedet, um die eigenen Staatsbürger zur Unterstützung der türkischen Politik zu mobilisieren. Das hatte Auswirkungen auf die Innenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Furcht vor einer Mobilisierung der Türken auf der Straße wurde ein Moment der Entscheidungsfindung – handelte es sich nun um den Umgang mit dem Massenmord an den Armeniern, den der Bundestag als eines der wenigen bedeutenden westlichen Parlamente nicht verurteilt hat, oder um die Behandlung der PKK und ihres Chefs Öcalan, dem Deutschland nicht den Prozeß zu machen wagte, obwohl er in Italien aufgrund eines deutschen Haftbefehls festgesetzt worden war. Die Selbstlähmung der deutschen Politik durch die von der türkischen Presse kräftig angeheizte „Lichterketten“-Hysterie nach Hoyerswerda, Mölln und Solingen tat ein übriges zur Steigerung des Selbstbewußtseins türkischer Einflußgruppen. Die Doppelpaß-Regelung, die zur vermehrten Einbürgerung nicht integrierter und nicht integrationswilliger Türken führt, kann sich vor diesem Hintergrund als Kuckucksei erweisen. Die als Symbol der Eingliederung in die bundesrepublikanische Gesellschaft hochgehaltenen türkischen Politiker aller etablierten Parteien dürften sich schon in naher Zukunft als Übergangsphänomen erweisen. Ihres politischen Gewichts bewußt, werden sich eingebürgerte Türken bald nicht mehr mit der Rolle von Alibi-Politikern zufrieden geben. Daran wird auch der anbiedernde Wettlauf der etablierten Parteien um die türkischen Wähler durch die Gründung von Ablegerorganisationen nichts ändern – zu nennen wären die 1997 gegründete FDP-nahe Liberale türkisch-deutsche Vereinigung (LTD), auf CDU-Seite das im selben Jahr entstandene Deutsch-Türkische Forum in Nordrhein-Westfalen, die Berliner Deutsch-Türkische Union (DTU) oder die Hamburger Deutsch-Türkische Interessengemeinschaft (DTI); auch Bayerns Innenminister Günther Beckstein erwog nach der letzten Bundestagswahl einen CSU-„Arbeitskreis für deutsch-türkische Mitglieder“. Die Gründung einer einflußreichen türkischen Sammelpartei, die über die Besetzung von Kanzleramt und Ministerposten mitentscheidet, ist nach den ersten unvollkommenen Ansätzen der letzten Jahre nur noch eine Frage der Zeit. Desintegration begünstigt zukünftige Sonderrechte Ebenso eine Frage der verstrichenen Jahre ist es, bis aus Einwanderern Autochthone werden, denen man volle Mitsprache und Minderheitenschutz nicht verweigern kann. Je weniger „integriert“ die neu entstehende türkische Volksgruppe in Deutschland sein wird, desto umfassender die Sonderrechte, die ihre Angehörigen demnächst beanspruchen werden. Für die deutsche Politik wird das in den kommenden Jahrzehnten eine Heraus­forderung sein, deren Ausmaß sie noch gar nicht begriffen hat. Foto: Der bisher prominenteste türkischstämmige Politiker Cem Özdemir und die Tageszeitung „Milliyet“: Des politischen Gewichtes bewusst

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