Bei dem Namen „Gibraltar“ fällt dem Durchschnittsbürger heute meist nur ein, daß Großbritannien und Spanien sich seit langem um diesen Südwestzipfel Europas zanken, was die jüngste Volksabstimmung dort auch nicht beenden konnte. Dabei ist diese Felsenecke der Iberischen Halbinsel bereits sehr viel früher Schauplatz wichtiger und dramatischer Ereignisse gewesen. Der Name gibt einen Hinweis darauf. „Gibraltar“ ist eigentlich auf das arabische „Schebel-al-Tarik“ (nach anderer Schreibweise „Gabal Tarik“) zurückzuführen, was soviel heißt wie „Felsen des Tarik“. Dieser Tarik war Berberoffizier, der im Jahre 711 von Afrika her mit seinen mehrheitlich berberischen Truppen über das Meer nach Europa zog, was schwerwiegende Folgen haben sollte. In Erinnerung an diese Landung und die Errichtung eines Lagers auf dem Felsen erhielt dann diese Südspitze Spaniens ihren Namen, den sie noch bis heute trägt. Was veranlaßte aber Tarik zu seinem Zug über das Meer? Nach Mohammeds Tod im Jahre 632 breitete sich der Islam von der bereits politisch und religiös geeinten arabischen Halbinsel rasch nach den verschiedenen Himmelsrichtungen aus, so auch durch Nordafrika nach Westen. Seine Stoßkraft bezog der Islam aus der Lehre vom heiligen Krieg (Dschihad) im Koran, die die muslimischen Gläubigen zum Einsatz des Vermögens und der eigenen Person auf dem Wege Allahs anhält. Alle Kriegszüge in Allahs Namen sind „Heilige Kriege“. Mit der ungeheuren politischen Dynamik einer noch jungen Religion und einer völkerwanderungsähnlichen Wucht ergoß sich der Islam nun über Nordafrika. Ziel war nicht die Bekehrung, sondern die Verbreitung der islamischen Herrschaft, also Unterwerfung. Die islamischen Heere zogen über Kairuan (664) bis nach Tanger am Atlantik, wobei auch die Berber 702 geschlagen wurden. 709 war ganz Nordafrika in muslimischer Hand. Mit dem Erscheinen des Islam verschwanden alle christlichen Gemeinden in Nordafrika und auch die lateinische Sprache sang- und klanglos, und als Konsequenz der Islamisierung trat eine völlige Arabisierung ein. Das Reich der Westgoten war Opfer des Dschihad Während es in den Jahrzehnten vor 711 nur verschiedene Raubzüge in Form von Flottenangriffen gegen die iberische Küste gab, ist der Zug des Tarik wahrscheinlich von dem Kalifen al Walid angeordnet worden. Dieser hatte bereits als Statthalter im Maghreb („Westen“) Musa ibn Nusayr zum Gouverneur gemacht, der seinerseits als seinen Oberstatthalter in Tanger eben diesen Tarik einsetzte, einen von ihm Freigelassenen. Er sammelte sein Invasionsheer in der Größenordnung von 7.000 Mann zunächst in Tanger. Aus dieser Zeit vor 711 sind Kupfermünzen mit der Aufschrift „Dschihad“ und „Bezahlung auf dem Wege Allahs“ erhalten. Dies war also der Sold für die Invasionstruppen. An ihnen wird auch deutlich, daß dieser Angriff geplant und gut vorbereitet war. Diese Zielsetzung traf mit einem Ruf nach Unterstützung zusammen, der von der Iberischen Halbinsel herübergekommen war. Dieses Gebiet nannten die Araber „djezirat al-Andalus“, was eine Übersetzung von „insula Vandalorum“ darstellt, also auf den Namen des germanischen Völkerwanderungsstammes der Vandalen bei seinem Aufenthalt in Spanien nach 409 zurückzuführen ist. Erst wurde nur der südliche Teil, dann ganz Spanien als „bled al-Andalus“ bezeichnet, also Andalusien. Wie sah nun aber dort vor dem Eintreffen Tariks die Situation aus? Nach 475 hatten die Westgoten den größten Teil Spaniens und das südliche Gallien erobert und zum ersten Mal die politische Einheit der Iberischen Halbinsel verwirklicht. Die Sicherheit der Grenzen ringsum führte in den Jahrhunderten danach zu einer fast völligen Entmilitarisierung der westgotischen Monarchie, denn vom Meer her erwartete man keinen Einfall. Nur einige Grenzbesatzungen in Gallien und im Baskenland wurden unterhalten. Außer einer Hofgarde gab es keine stehende Truppe oder regelmäßige Aufgebote. Erst ab 694 wurden die Raubzüge und Flottenangriffe der Araber an der Mittelmeerküste ernstgenommen. Zwei Faktoren waren vor 711 für den trostlosen Zustand des Westgotenreiches die Ursache: Zum einen waren Hungersnöte und Seuchen aufgetreten, zum anderen schwächte politisch der Gegensatz zwischen Königtum und Adel das innere Gefüge des Staates. Diese innere Zwietracht machte sich dann in den folgenden Ereignissen auf eine katastrophale Art und Weise bemerkbar. 710 starb der König Witiza im Alter von nicht ganz 30 Jahren. Dies muß so überraschend eingetreten sein, daß er nicht mehr die Zeit für eine Nachfolgeregelung gefunden hatte. Die vorhandenen Söhne waren noch Kinder, deswegen wurden sie bei der Nachfolge übergangen, aber zwei Brüder Witizas, Oppa und Sisbert, machten sich für sie stark. Damit war dann eine Gegenpartei wieder am Zuge. Der Adel wählte einen aus einer Nebenlinie stammenden Nachfolger, Roderich, zum neuen König, den Witiza noch zum Herzog in der Baetica im Süden ernannt hatte. Diese Wahl geschah zwar unter heftigem Streit, aber rechtmäßig. Die Witiza-Sippe aber und ein Teil des Adels setzten sich für die Söhne Witizas ein. Das bedeutete schwere innenpolitische Auseinandersetzungen mit der Folge eines Bürgerkrieges. Die eine der beiden Parteien rief nun zu ihrer eigenen Unterstützung die Muslime aus Afrika ins Land, denen die Rolle von Helfern der „Witizaner“ zur Wiedererlangung der Macht zugedacht war, ein folgenschwerer Entschluß. Als Tarik in Gibraltar landete, war der neue König Roderich wegen eines Baskenaufstandes im Norden in Pamplona. Er eilte in die Baetica und zog gegen die Muslime, die noch kurz zuvor durch Musa mit 5.000 Mann verstärkt worden waren. Die Schlacht fand am 19. Juli 711 am Fluß Guadalete statt (nicht bei Jerez de la Frontera). Teile des westgotischen Heeres standen unter dem Befehl der beiden Brüder Witizas. Es soll zum Verrat durch ein Überlaufen von Teilen des Heeres unter dem Befehl der Witizaner gekommen sein. Roderich fiel in dieser Schlacht, und damit war das Schicksal des westgotischen Reiches besiegelt. Die Ursachen dafür lagen nicht nur in einem möglichen Verrat, sondern vor allem auch im Geistig-Moralischen. Die Führungsschicht war zerstritten und unfähig, den Widerstand effektiv zu organisieren. Die eigene Bevölkerung war überwiegend passiv, und die Araber setzten auch psychologische Kriegsführung ein: Nach arabischen Quellen sollen sie einen Gefangenen geschlachtet, gekocht und zum Schein verspeist haben, und dieses absichtlich erzeugte Menschenfresserbild soll zusätzlich demoralisierend gewirkt haben. Auch die meisten großen Städte kapitulierten in der Zeit danach ohne militärischen Widerstand. Tarik wurde als Sieger im Bürgerkrieg zum Herrn der Lage, so daß die Iberische Halbinsel relativ zügig unter arabische Herrschaft geriet. Von nun an gehörte sie als „al Andalus“ zum Herrschaftsbereich des Omaijaden-Kalifen in Damaskus. Tarik und Musa wurden nach Syrien befohlen, an ihre Stelle traten rasch wechselnde Gouverneure. In Gallien waren die Muslime seit 720 siegreich, die letzten Reste des Westgotenreiches in Carcassonne und Nimes fielen 725 unter islamische Herrschaft. Durch die arabische Invasion wurde somit die Entstehung der ersten Nation auf europäischem Boden abgebrochen. Der Gouverneur Abd ar-Rahman zog im Sommer 732 nach Aquitanien und dann weiter nach Norden. Erst bei Poitiers konnte ihm der fränkische Hausmeier Karl Martell, der Großvater Karls des Großen, in offener Feldschlacht eine so schwere Niederlage bereiten, daß damit die arabische Invasion nach Westeuropa aufgehalten wurde. Hier stellt sich unabweisbar die Frage, was aus dem Frankenreich und dem übrigen Europa geworden wäre, wenn der Islam weiterhin erfolgreich gewesen wäre. Eine Ahnung davon bekommt man, wenn man sieht, was nach dem Triumph Tariks 711 in Spanien ablief. Ausbau der Positionen durch Auslöschung alles Christlichen Wenn die Witizaner der Meinung waren, sie bekämen nun Unterstützung für ihre ehrgeizigen Herrschaftsansprüche, so sahen sie sich getäuscht. Sie hatten zwar den Islam ins Land geholt, aber die Araber – nun im Besitz der Macht – dachten gar nicht daran, sich als Steigbügelhalter für die Machterlangung der Witizaner benutzen zu lassen. Das gegebene Versprechen wurde gebrochen, denn das Westgotenreich war für den Kalifen und Allah erobert worden, nicht für die innenpolitischen Parteien der Westgoten in ihrer aktuellen Auseinandersetzung. Positiv wirkte sich die arabische Invasion trotzdem für die Angehörigen Witizas aus; sie bekamen Landgüter. Auch die Juden profitierten von diesem Eindringen, denn sie hielten zu den Invasoren. Die Araber vertrauten ihnen zunächst die Kontrolle über die eroberten Städte an (Cordoba, Granada, Sevilla, Toledo). Die übrige Bevölkerung fügte sich nicht so problemlos. Die Gouverneure mußten Aufstände niederschlagen, weil es zu unkoordinierten Kämpfen gegen die Eindringlinge kam. Als äußeres Zeichen dafür, daß nun eine andere Zeit angebrochen war, konnte die Verlegung der Hauptstadt von al-Andalus 716 unter dem Gouverneur al Hurr von Sevilla nach Cordoba gesehen werden. Die Stadt wurde zum neuen islamischen Zentrum mit Sitz zunächst eines Emirats ab 756 und ab 929 sogar eines neuen Kalifats. Einmal an die Macht gelangt, ließen die Vertreter des Islam sich nicht einfallen, diese wieder herauszugeben. Statt dessen setzten sie nun den Ausbau ihrer Positionen in Gang, was auf die schrittweise Verdrängung oder Auslöschung alles Christlichen mit geeigneten gesellschaftlichen Veränderungen hinauslief. Wenn es bei den Westgoten seinerzeit noch zur Verschmelzung von Siegern und Besiegten gekommen war, so waren die Araber wegen ihres Glaubens nicht assimilierbar, denn dieser verlangte primär Unterwerfung und nicht Bekehrung der Ungläubigen. Dies ging nicht ohne Unterdrückung von immer wiederkehrenden Aufständen ab, um die völlig neue politische und soziale Ordnung zu errichten und abzusichern. Die Unterworfenen wurden vor die Wahl gestellt, sich entweder dem Islam anzuschließen oder ihre eigene Religion unter Auflagen zu behalten. Daß dabei nur eine einzige Kultur als Leitkultur gelten sollte, nämlich die arabische, galt als selbstverständlich. Um der Durchsetzung ihrer Ziele einen besseren Nachdruck zu verleihen, wurde auch hier der Hebel bei den materiellen Verhältnissen angesetzt. Die enteigneten Besiegten behielten zunächst ihre Gesetze und Richter und blieben auf ihren Grundstücken, mußten aber vier Fünftel des Ertrages an den muslimischen Eigentümer abführen. Andersgläubige mußten je nach Stand und Gewinn eine Kopfsteuer bezahlen, die dann wegfiel, wenn ein Übertritt zum Islam erfolgte. So verwundert es nicht, daß die Masse der Westgoten sich unter dem Druck dieser finanziellen Daumenschrauben einer übertriebenen Besteuerung dem islamischen Glauben anschloß. Freiwillige Konvertiten verleugneten mitunter sogar ihre Abstammung und nahmen arabische Namen an. Natürlich wurde das durch den Koran geheiligte Arabisch zur offiziellen Sprache im neuen Emirat. Die romanische Volkssprache wurde nun mit arabischen Buchstaben geschrieben. Diese Arabisierung war 50 Jahre nach der Eroberung so stark, daß junge Christen nur noch die arabische Sprache und Literatur kannten. Die eigene Sprache (Latein) hatten sie verlernt oder vergessen, da der Einfluß des Arabischen so stark war. Auch die Ortsnamen wurden an die arabische Sprache angepaßt und in die neue Schrift übertragen. Unter dem Druck der Umstände paßte man sich auch äußerlich an, indem man arabische Kleidung trug. Dieser Aufsaugung durch die fremde Kultur hielt nur eine Minderheit wenigstens im Glauben stand. Man nannte sie auf Arabisch „musta’rib“ die „Mozaraber“, daß heißt. die „zu Arabern Gemachten“, also arabisierte Christen. Sie gehörten, wie die Juden, zu den „Leuten des Buches“ (Bibel) und waren unter den sogenannten dhimmi-Status gestellt, galten also als geduldete Schutzbefohlene des Islams, die ihren Glauben zwar in abgesonderten Wohnvierteln praktizieren durften, aber entsprechenden Tribut bezahlen mußten. Mission war bei Todesstrafe verboten, ihre Kirche wurde streng überwacht und harten Beschränkungen unterworfen. Diese Christen waren klar benachteiligt. Die Situation muß so schlimm gewesen sein, daß es im 9. Jahrhundert unter den Mozarabern wegen ihrer Verzweiflung viele Märtyrer gegeben hat, so daß der Emir von Cordoba sogar den Märtyrertod verbieten ließ. Ein besonders spektakuläres Beispiel ist der Tod des Bischofs Eulogius von Cordoba, der 859 hingerichtet wurde. Die Revolten der Mozaraber im 9. Jahrhundert ließen die Zahl der Märtyrer immer größer werden. Ihre Kirchen wurden auch zerstört. Wie diese kulturelle Aufsaugung vor sich ging, läßt sich an einem berühmten Beispiel besonders gut zeigen. Touristen zeigt man heute in Cordoba die „Mezquita Mayor“ als rein islamische Hauptmoschee und rühmt ihre architektonische Schönheit. Wie es dazu kam, wird meist unterschlagen. Die ältesten Säulen im Nordwestteil der Moschee geben mit ihren acht Kapitellen einen Fingerzeig, denn sie sind teils spätrömisch-frühchristlichen, teils westgotischen Ursprungs. Wieso das? Die „Reconquista“ brauchte fast 700 Jahre zur Vollendung An dieser Stelle stand ursprünglich die westgotische Kirche San Vicente, der bedeutendste Bau des westgotischen Cordoba. Nach der Eroberung der Stadt gingen die Araber schrittweise vor, indem sie zunächst noch den Christen gestatteten, die eine Hälfte dieser allein übriggebliebenen Kirche noch mit zu benutzen. Der erste Emir, Abd ar Rahman I., kaufte ihnen dann mit den erbeuteten Geldern diese Hälfte ab, ließ sie abreißen und legte 785 den Grundstein zur Mezquita als zentral-islamischem Heiligtum Spaniens. Als Vorbild für diese Vorgehensweise dürfte die nach 711 in Damaskus, dem Sitz des Kalifen, vorgenommene Umwandlung der Johanneskirche in eine Moschee gedient haben. Unter den Nachfolgern Abd ar Rahmans I. wurde die Mezquita dann in mehreren Phasen auf schließlich 19 Schiffe mit 850 Säulen erweitert, ein Symbol der Verdrängung einer Religion und ihrer Kultur durch eine andere. Ihre Vorgeschichte wird meist verschwiegen. Die islamische Herrschaft in Spanien saß, unterm Strich, so fest im Sattel, daß die Rückeroberung, die sogenannte Reconquista, die zunächst im Nordwesten von Asturien und Kantabrien her versucht wurde, bis zum Ende des Mittelalters dauerte, als zuletzt 1492 Granada fiel. Bild: Die Alhambra von Granada im Süden Spaniens: Das Arabische galt in Andalusien mehrere Jahrhunderte selbstverständlich als Leitkultur Hemann Schubart ist Oberstudienrat in Marburg.