Die 2021 vom Merkel-Kabinett als „Sozialgarantie“ definierte Sozialabgabenquote von höchstens 40 Prozent ist Geschichte. Aktuell betragen die Beiträge zur Renten- (18,6), Kranken- (14,6 plus durchschnittlichem Zusatzbeitragssatz 2,5), Pflege- (3,6 ohne Kinderlosenzuschlag) und Arbeitslosenversicherung (2,6) in Summe 41,9 Prozent vom Lohn. Dazu stieg die Beitragsbemessungsgrenze und Rücklagen wurden aufgelöst. Nach Prognosen des Verbands der Privaten Krankenversicherungen (PKV) und des IGES-Instituts werden 2035 ohne Reformen 51 Prozent erreicht sein – jeweils hälftig von Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu tragen.
Neben einem massiven Verlust der Wettbewerbsfähigkeit „Made in Germany“ droht ein handfester Generationenkonflikt, denn welcher Arbeitnehmer wird Abzüge von durchschnittlich 45 Prozent akzeptieren (25 Prozent Sozialbeiträge, 20 Prozent Einkommensteuer)? Demographisch bedingt wird zudem die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer bei zunehmendem Fachkräftemangel steigen, so daß zwecks Sicherung gleichbleibender Nettobezüge höhere Bruttoentgelte durchsetzungsfähig werden.
Pflege kostet 83 Milliarden Euro
Deutsche Unternehmen geraten demnach nicht nur nachfrageseitig mächtig unter Druck (Verbrenner-Aus), sondern auch kostenseitig neben steigenden Bürokratie- und Energiekosten durch explodierende Arbeitskosten, deren Anstieg nicht durch entsprechende Produktivitätsfortschritte gedeckt sein dürfte. Ein Haupttreiber des Beitragsanstiegs sind – neben der Gesetzlichen Rentenversicherung – die Pflegekosten. 2023 waren 5,6 Millionen Personen pflegebedürftig. 84 Prozent werden zu Hause versorgt, allein 52 Prozent aller Fälle ausschließlich von Angehörigen gepflegt.

16 Prozent sind vollstationär in Heimen untergebracht, was etwa 48 Prozent der gesamten Pflegekosten verursacht. Mit 83 Milliarden Euro beansprucht die Pflege im Alter knapp zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Im Vergleich dazu ist die volkswirtschaftliche Nettoinvestition nur etwa doppelt so hoch. Doch während diese die zukünftigen Produktionsmöglichkeiten zugunsten aller erweitert und Wachstum ermöglicht, zählen Pflegeleistungen zu den rein konsumtiven Ausgaben.
„Omas Erspartes“ ist in Gefahr
Hinzu tritt die Frage der Verteilung bzw. der Finanzierung. Ein Beispiel: Die Gesamtkosten für einen Platz im Pflegeheim der Diakonie Hamburg betragen im Durchschnitt zwischen 3.026 Euro (Pflegegrad 1) und 5.406 Euro (Pflegegrad 5). Davon sind monatliche durchschnittliche Kosten für Unterkunft (560 Euro), Verpflegung (470 Euro), Investition (583 Euro) und Ausbildung (190 Euro) – zusammen 1.803 Euro – selbst zu tragen.
Hinzu kommen die Pflegekosten bei Pflegegrad 2 bis 5 in Höhe von durchschnittlich 1.599 Euro. Diese werden je nach Aufenthaltsdauer mit 15 bis 75 Prozent bezuschußt. Somit verbleibt ein Eigenanteil des Pflegebedürftigen im ersten Jahr von 3.162 Euro, der im vierten Jahr auf 2.203 Euro sinkt.
Insbesondere dieser Eigenanteil ist Stein des gesellschaftlichen Anstoßes, denn er kommt zumeist unerwartet, und übersteigt die bisherigen Ausgaben von Dauer. Zudem reduziert er „Omas Erspartes“ für die späteren Erben schnell gegen null.
Lauterbach will Eigenanteile begrenzen
Doch als „Teilkasko-Versicherung“ 1995 konzipiert, ist die soziale Pflegeversicherung (SPV) auf Eigenbeteiligung ausgerichtet, auch um Fehlanreize und ausufernde gesellschaftliche Belastungen zu vermeiden. Neben Pflegehilfsmitteln, Sachleistungen und anderem trägt die Pflegekasse bereits einen Teil der Pflegekosten als Festzuschuß abhängig vom Pflegegrad zwischen 175 und 2.005 Euro. Außerdem übernimmt das Sozialamt mit der „Hilfe zur Pflege“ den Eigenanteil im Falle eines geringen Einkommens und Vermögens, der dann aus Steuermitteln gezahlt wird. Bereits der ab 2022 gezahlte Pflegezuschuß der Pflegekassen zum Eigenanteil war eine Reaktion auf entsprechende Forderungen nach Entlastung (§ 43c SGB XI), der mit 5,4 Milliarden Euro jährlich zu Buche schlägt. Neuere Vorschläge gehen sogar erheblich weiter.
So brachte SPD-Gesundheitsminister Karl Lauterbach eine Begrenzung der Eigenanteile ins Gespräch. Während derzeit der Pflegekostenzuschuß prozentual gedeckelt ist und damit der Eigenanteil absolut nach oben hin offen ist, würde ein „Sockel-Spitze-Tausch“ dieses Verhältnis umkehren. Konkret schlägt die SPD in ihrem Wahlprogramm vor, „die hohen Eigenanteile in der stationären Langzeitpflege durch eine Begrenzung auf 1.000 Euro pro Monat (sogenannter Pflege-Deckel) maßgeblich reduzieren“ zu wollen. Alle darüber hinausgehenden Kosten trüge die SPV – Pflege in Luxusheimen inbegriffen. Die Kosten für Miete und Essen wären weiterhin selbst zu tragen.
Der Sozialstaat wird dem sozialen Anspruch nicht gerecht
Der frühere Chef der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA), NRW-Sozialminister Karl-Josef Laumann, und Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (beide CDU) wollen die SPV in eine Pflegevollversicherung umbauen, die alle Leistungen aus Beiträgen und Steuern übernimmt. Die Leistungen dürften sich allerdings vom Umfang, der Qualität und den Preisen her auf ein verordnungsmäßig festgelegtes Pflegesortiment beschränken. Dennoch würden die Pflegekosten erheblich ansteigen, da nicht nur die Eigenanteile „sozialisiert“ werden, sondern auch die Anreize zur Nichtinanspruchnahme bzw. zur kostengünstigeren häuslichen Pflege vollständig entfallen. Die Pflegeknappheit (Wartezeiten in Heimen, Pflegenotstand) würde sich entsprechend zusätzlich verschärfen.
Diese Wählerstimmen fangenden Unterstützungen wirken verteilungspolitisch als Gießkanne. Da auch wohlhabende Personen ohne Bedürftigkeitsprüfung in den Genuß kommen, letztendlich auch die Erbmasse geschont wird, entsteht eine Sozialpolitik, die ihrem sozialen Anspruch nicht gerecht wird. Das durchschnittliche Nettovermögen der Haushalte mit mindestens einer Person im Alter von über 65 Jahren liegt bei 320.000 Euro. Gemäß einem Gutachten im Auftrag der PKV wäre „das Gros der Haushalte in der Lage, [die] Kosten der stationären Pflege für ein Mitglied auch über längere Zeiträume aus eigener Kraft“ zu finanzieren.
Oder anders ausgedrückt: Ist ein Erbenschutzprogramm zu Lasten der jungen Beitragszahler durch eine ausgeweitete SPV wirklich sozial? Allerdings: Wer aus dem Bürgergeld oder in der Grundrente zum Pflegefall wird – oder wer sein Erspartes rechtzeitig „verjubelt“ hat –, der hat schon heute dank Sozialamt praktisch eine Pflegevollversicherung.
Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.