Zwanzig Euro, die die Eltern zusätzlich in die Klassenkasse einzahlen sollen, können Bürgergeldempfänger vor Probleme stellen. So bittet der alleinerziehende Vater verschämt um Zahlungsaufschub bis zum Monatsende. Die ebenfalls Bürgergeld beziehende Migrantin aus Venezuela dagegen zieht den Schein lässig aus der Tasche. Sie betreibt mit ihrer Familie ein Nagelstudio, illegal versteht sich. Und die Frau aus Eritrea rechnet einer Marokkanerin detailliert vor, warum es sich nicht lohnt, in Deutschland arbeiten zu gehen, aber sehr wohl, aus der Fremde in das Wohlstandsland einzuwandern. Abfassen, was möglich ist, lautet die Devise vieler.
Dafür waren aber weder das 2023 eingeführte Bürgergeld noch die vor ihm geltenden Hartz-IV-Regeln gedacht, sondern als Grundprinzip, daß eine solidarische Gesellschaft Menschen nicht im Stich läßt, die unverschuldet in Not geraten sind, weil sie beispielsweise ihre Arbeit verloren haben oder ihr Geschäft schließen mußten. Deswegen hat das Bundesverfassungsgericht ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip entwickelt.
Dieses garantiert jedem in Deutschland lebenden Menschen das Existenzminimum. Dieses wird jährlich in einem gesetzlichen Verfahren errechnet. „Das Bürgergeld stärkt den sozialen Schutz bei Arbeitslosigkeit. Ersparnisse werden besser geschützt, die vollen Kosten für eine Wohnung länger übernommen“, glaubt der DGB. 2024 ist das Bürgergeld um zwölf Prozent inflationsbedingt gestiegen – Alleinstehende erhielten seither beispielsweise 563 Euro im Monat – 61 Euro mehr als 2023. In diesem Jahr gab es hingegen eine Nullrunde.
Tübinger OB Boris Palmer nennt ein Extrembeispiel
Grund dafür ist, daß im vergangenen Jahr die Inflation zurückgegangen ist und so die Anhebung des Regelsatzes Anfang 2024 zu hoch war. Die von der FDP geforderte Senkung des Bürgergeldes verhinderte die Bestandsschutzregel. Sozialverbände halten die Zahlungen für zu niedrig, da die gestiegenen Stromkosten eine große Belastung darstellten. Bereits 2024 habe die Versorgungslücke, die sich aus dem Bürgergeld-Anteil für Strom und dem tatsächlichen Strompreis ergibt, 129 Euro betragen, rechnete im September das Vergleichsportal Verivox vor. Für das laufende Jahr ergebe sich für Alleinlebende ein Fehlbetrag von 74 Euro pro Jahr.
Daß das Bürgergeld aktuell die Gemüter erregt, liegt an den von Jobcentern verschickten Aufforderungen an Bürgergeldbezieher, ihre Unterkunftskosten zu senken. Und es geht um eine Äußerung des Tübinger Bürgermeisters Boris Palmer im Zusammenhang mit der prekären Finanzsituation der Kommunen. Der Ex-Grüne hatte in der ZDF-Sendung von Markus Lanz behauptet, eine Familie habe fast 6.000 Euro Bürgergeld erhalten.
„Ich hab einen Bescheid gesehen, dass eine Bürgergeld -Familie 6000 Euro im Monat bekommt“ erzählt Boris Palmer bei Lanz zu den Schieflagen im deutschen Sozialsystem. pic.twitter.com/f36JTNwIcg
— Gr@ntlɘr 🥨🍺 (@oida_grantler) April 23, 2025
Später konkretisierte Palmer den Fall: Die Familie mit zwei Erwachsenen und fünf Kindern erhalte sogar jeden Monat fast 7.500 Euro Bürgergeld: „Die haben sieben Köpfe in der Familie und eine sauteure Wohnung, wo einer noch abzockt, der sie halt da drin hat“, erklärte Palmer und schlug vor: „Vielleicht kann man die guten Absichten mal wieder darauf reduzieren, daß der Staat gegen Notlagen hilft und nicht jedes Risiko auf der Welt absichert.“
Die Hälfte der Bezieher sind Ausländer
Da Palmer nicht offenlegte, aus welcher Stadt der von ihm vorgelegte Bürgergeldbeleg stammt, recherchierten Medien und brachten Erstaunliches zutage. So zahlt Tübingen eine Bruttokaltmiete für sieben Personen bis zu 1.519 Euro, Frankfurt am Main bis zu 1.641 und München gar 2.498 Euro. Palmers Beispiel sei zwar möglich, aber die absolute Ausnahme, hieß es seitens der Bundesagentur für Arbeit (BfA). Diese verweist darauf, daß von den Kommunen Mietobergrenzen festgelegt wurden. Dazu kommen Heizungs- und Warmwasserkosten. Für Strom muß der Bürgergeldempfänger selbst aufkommen. Außerdem wird die Kranken- und Pflegeversicherung übernommen, gibt es Zuschüsse für Bildungsausgaben und anderes wie den Kindersofortzuschlag. Derartiges spricht sich in einer vernetzten Welt herum. Die Völker der Welt hören die Signale, die der deutsche Sozialstaat aussendet.
Im vergangenen Jahr zahlten die Jobcenter 46,9 Milliarden Euro Bürgergeld aus. Damit sei das Bürgergeld fast so hoch wie die Ausgaben für die Verteidigung, und Ausländer beziehen fast so viel Bürgergeld wie für Bildung vorgesehen ist, rechnete das Onlinemedium „Nius“ aus. 2,9 Millionen Haushalte beziehen aktuell Bürgergeld, lediglich 339.00 davon zahlen einen Teil der Miete aus ihrem Regelsatz, teilte die Bundesregierung am 18. April auf eine Anfrage der Linken im Bundestag mit.

Die BfA mußte einräumen, daß 48 Prozent der Bezieher von Bürgergeld keine deutschen Staatsbürger sind: Ausgezahlt wurden Ende 2024 rund 2,6 Millionen Ausländer, davon 706.000 Ukrainer. Auch bezogen zu diesem Zeitpunkt 512.000 Flüchtlinge aus Syrien, 201.000 Afghanen, knapp 200.000 Türken, 112.000 Menschen aus dem Westbalkan, 108.000 Bulgaren sowie Zehntausende Iraker, Rumänen, Polen, Serben und Italiener deutsches Bürgergeld. Unberücksichtigt bei diesen Zahlen sind Doppelstaatler und diejenigen, die im Zuge ihres Aufenthalts inzwischen die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten haben.
Aus Bürgergeld soll Grundsicherung für Arbeitssuchende werden
Ausländer erhielten 2024 knapp 22,2 Milliarden Euro Bürgergeld, darunter eben 706.000 der etwa eine Million Ukrainer. Einen angekündigten Vorstoß der kommenden Koalitionäre, daß von diesen Zahlungen künftig Neuankömmlinge aus dem Kriegsland ausgeschlossen werden sollen, finden nach einer repräsetativen Umfrage des Instituts YouGov im dpa-Auftrag 77 Prozent der Deutschen gut. Seit April sollen diese Flüchtlinge nur noch Leistungen erhalten, wie sie für Asylbewerber vorgesehen sind und „sofern sie bedürftig sind“. Allerdings haben auch diese Ukrainer nach einer Anerkennung als Flüchtlinge weiterhin Anspruch auf Bürgergeld und letztlich nach drei Jahren Aufenthalt in Deutschland, sowieso. Augenwischerei also. Zumal sie laut einer vorerst bis Ende März 2026 geltenden EU-Richtlinie einen Aufenthaltsstatus zugeprochen bekommen müssen, ohne überhaupt einen Asylantrag zu stellen.
Auch will die neue Bundesregierung auf Druck der Union das Bürgergeld durch eine „Neue Grundsicherung“ ersetzen. „Wir werden das bisherige Bürgergeldsystem neu gestalten, hin zu einer Grundsicherung für Arbeitssuchende“, so Friedrich Merz: „Für Menschen, die arbeiten können und wiederholt zumutbare Arbeit verweigern, wird ein vollständiger Leistungsentzug vorgenommen.“ Besonders unter den Bürgergeld beziehenden Migranten dürfte eine im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD stehende Ausnahme die Runde machen: Berücksichtigt werde die „besondere Situation von Menschen mit psychischen Erkrankungen“.