Ein Dexit, also ein Austritt Deutschlands aus der Währungsunion oder gar aus der EU, käme aufgrund der Größe (24 Prozent des EU-Bruttoinlandsprodukts/BIP; 18,8 Prozent der EU-Bevölkerung) voraussichtlich einem Ende beider Zusammenschlüsse gleich. Von daher erstaunen Warnungen vor solch einem Schritt – zumal vor einer anstehenden Europawahl – nicht. Die wissenschaftliche Fundierung wollen zwei neue Studien bieten. Im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) und unter Leitung von Gabriel Felbermayr, Direktor des Wiener Instituts für Wirtschaftsforschung (Wifo), entstand die Studie „Was kostet uns ein Dexit?“. In das hochkomplexe Forschungsmodell fließen die Verflechtungen der Wertschöpfungsketten auf der Basis von 43 Ländern und 50 Sektoren zusammen.
Dabei gehen die Autoren infolge eines Dexits von einer vollständigen Auflösung der bislang erreichten EU-Integration aus. Mit einer 90prozentigen Wahrscheinlichkeit errechnen die Verfasser für Deutschland einen wirtschaftlichen Schaden von 137 bis 276 Milliarden Euro pro Jahr. Umgekehrt ließe sich sagen, daß der Vorteil der EU in Deutschland pro Kopf zwischen 1.650 und 3.300 Euro jährlich liegt. Die große Spanne (Mittel: 2.200 Euro) resultiert aus dem Zusammentreffen möglicher Einflußfaktoren. Im Mittel gehen die Autoren von einem Kaufkraftverlust von fünf Prozent aus; aufgrund von Anpassungsproblemen könnte er für die ersten Jahre bis zu zehn Prozent betragen. Eine wesentliche Ursache sind die derzeit intensiven Handelsverflechtungen mit anderen EU-Ländern.
Methodisch beruht die Simulation auf einer gedanklichen Rückabwicklung der bisher erfolgten EU-Integrationsschritte. Die errungenen Vorteile der Integration werden folglich im Umkehrschluß als Kosten einer Desintegration genommen. Hiernach hat der Binnenmarkt (68 Prozent) die größten Wohlstandseffekte, gefolgt von der Freizügigkeit des Schengenraumes (etwa 20 Prozent) und der Währungsunion (zwölf Prozent). Die Zollunion hat erstaunlicherweise keinen nennenswerten Effekt. Allerdings muß für die Berechnung des Nettovorteils der EU-Mitgliedschaft Deutschlands der Nettobeitrag zum EU-Budget berücksichtigt werden. Dieser schmälert den Gewinn um etwa acht Prozent. Damit führt ein Euro Nettotransfer zu einem Realeinkommensgewinn von 12,70 Euro – danach bereits rein ökonomisch ein sehr lohnendes Geschäft für Deutschland.
Weitere Studie zeichnet düsteres Szenario für Deutschland
Eine zweite Studie zum Dexit kommt vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW). In Anlehnung an die Brexit-Erfahrungen (JF 23/24) werden die Kosten eines deutschen EU-Austritts abgeleitet. Ohne das Schätzmodell offenzulegen, versuchen die Autoren für den Zeitraum 2016 bis 2021 die Folgen eines hypothetischen Austritts Deutschlands – parallel zum Brexit – zu quantifizieren.
Im Gegensatz zur Wifo-Studie, die in den nahen Folgejahren des Austritts hohe Verluste feststellte, steigen die volkswirtschaftlichen Schäden gemäß der IW-Untersuchung im Zeitverlauf an. Während hiernach der BIP-Verlust im ersten Jahr 2,3 Prozent beträgt, steigen die Einbußen im vierten Jahr auf 5,8 Prozent und erreichen im fünften Jahr 5,6 Prozent des jeweiligen realen BIP. Insgesamt wäre das deutsche BIP nach einem Dexit 2016 im Jahr 2021 um 690 Milliarden Euro niedriger ausgefallen.
Der Vergleich zum britischen EU-Austritt hinkt
Die Grenzen beider Studien sind methodisch bedingt. So war Großbritannien nicht Mitglied der Währungsunion, und auch die Handelsverflechtungen waren nicht so intensiv wie die Deutschlands. Von daher dürfte die IW-Studie die Kosten eher unterschätzen.
Ganz generell gründet die Kritik an beiden Simulationen an der rückwärtigen Sichtweise. So nutzt die Wifo-Studie Daten aus den EU-Integrationsschritten 2000 und 2014. EU-Gemeinschaftsschulden, die neue EZB-Geldpolitik der „Quantitativen Lockerung“ mit den umfangreichen Staatsanleiheankäufen oder die Risiken aus dem Anstieg der unbesicherten Target-Forderungen für Deutschland, die bei einem Austritt wahrscheinlich nicht einzufordern wären – alles wichtige Faktoren, die ohne Berücksichtigung bleiben. Drohen zukünftig Risiken aus der überbordenden Staatsverschuldung Italiens, aber auch Frankreichs? Die EU-Bürokratie (Lieferketten-Verordnung; Datenschutzgrundverordnung in jetziger Fassung) wächst scheinbar unaufhaltsam.
Neue Vergemeinschaftungsinstrumente zu Lasten Deutschlands wurden mit dem einheitlichen Bankenabwicklungsmechanismus zwischenzeitlich installiert, die EU-Einlagensicherung ist geplant. Wie wird sich ein EU-Beitritt der Ukraine als dann sechstgrößtes Land mit einem Pro-Kopf-Einkommen von einem Zehntel der Bundesrepublik auf den Umverteilungsmechanismus auswirken? All dies sind neuere Entwicklungen, die einen Umbau der EU und der Währungsunion bewirken. Dessen Ende und dessen Folgen für Deutschland sind nicht absehbar. Sie werden für die Bevölkerung weder transparent gemacht noch diskutiert.
Mehr nationale Souveränität, Vielfalt und begrenzte Experimente
Politisch brisant werden die Studien, wenn damit Wahlkampf betrieben wird. So bewerben die IW-Autoren ihre Studie mit: „Die Alternative für Deutschland (AfD) fordert den Austritt Deutschlands aus der EU.“ Auch hätte es der Transparenz gedient, den Auftraggeber/Finanzier in der Wifo-Studie zu benennen. Denn schließlich wird die INSM von den Verbänden der Metall- und Elektroindustrie finanziert. Deren bayrischer Landesverband hat in seiner gemeinsamen Erklärung mit der IG Metall den Dexit in Verbindung mit der AfD gebracht. Die inhaltliche Grundlage hierfür stellt ein Blick in das „Europawahl-Programm 2024 – Europa neu denken“ allerdings in Frage.
Abgesehen von manchen Inkonsistenzen finden sich dort zumindest diskussionswürdige Umgestaltungsvorschläge, die an die Ursprünge eines „Europas der Vaterländer“, mehr nationale Souveränität, Vielfalt und begrenzte Experimente statt riskanter und alternativloser Einheitlichkeit anknüpfen. Selbst der EU-Binnenmarkt und eine Gemeinschaftswährung für strukturgleiche Länder stehen im Programm. Ein Dexit sähe anders aus. Und: Was sind eigentlich die Kosten eines Weiter so?
Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.