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Finanzpolitik: Europa, einig Schuldenland: Ein Problem für Brüssel

Finanzpolitik: Europa, einig Schuldenland: Ein Problem für Brüssel

Finanzpolitik: Europa, einig Schuldenland: Ein Problem für Brüssel

EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni: Verkündet ein Defizitverfahren für Länder, die derzeit zu viele Schulden aufnehmen (Themenbild)
EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni: Verkündet ein Defizitverfahren für Länder, die derzeit zu viele Schulden aufnehmen (Themenbild)
EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni: Verkündet ein Defizitverfahren für Länder, die derzeit zu viele Schulden aufnehmen Foto: picture alliance/dpa/Belga | Nicolas Landemard
Finanzpolitik
 

Europa, einig Schuldenland: Ein Problem für Brüssel

Nach jahrelangem Schuldenwahn folgt der Weckruf: Die EU-Kommission verhängt Defizitverfahren gegen sieben Länder. Doch folgen Konsequenzen daraus – oder werden einfach neue Ausreden für neue Schulden gefunden? Von Albrecht Rothacher.
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Nach vier Jahren Corona-, Energie- und Inflationskrise, bei denen die EU-Defizitverfahren ausgesetzt wurden, ist bei den Neuverschuldungen nun vorgeblich Schluß mit lustig. Kommissionchefin Ursula von der Leyen und ihr Vizepräsident Valdis Dombrovskis hätten die Veröffentlichung der nach dem Vertrag von Maastricht fälligen Warnberichte gerne auf einen Zeitpunkt nach ihrer Wiederbestellung verschoben, denn die Hauptsünder sind Frankreich und Italien. Doch ließ sich der dramatische Situationsbericht rechtlich nicht länger aufhalten.

Sanktionen, wie der Entzug von EU-Mitteln, sind trotz der Reform der Schuldenregelung im April nicht vorgesehen. Die Warnbriefe könnten also in der Ablage Staub sammeln. Die nationalen Fiskalprobleme freilich werden davon nicht verschwinden.

Gegen Rumänien mit seinen instabilen Regierungen ist bei einer Neuverschuldung von 6,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ohnehin schon ein Defizitverfahren anhängig. Die weiteren überhöhten Neuverschuldungen betragen in der Slowakei sechs Prozent, in Frankreich 5,3 Prozent, in Polen 5,1 Prozent, in Malta und Ungarn 4,5 Prozent, in Belgien 4,4 Prozent und in Italien 4,3 Prozent. Sparmaßnahmen sind nirgendwo erkennbar. Im Gegenteil. Bei Slowenien (3,6 Prozent), Finnland (3,5 Prozent), Spanien und Bulgarien (3 Prozent) drückte die Kommission beide Augen zu. Österreich, Zypern, Litauen und Estland (je 2,9 Prozent) schrammen knapp am Drei-Prozent-Limit vorbei.

Ernsthafte Sanierungsmaßnahmen sind nirgendwo zu erkennen

In Deutschland hilft noch die Schuldenbremse (1,8 Prozent). Winzige Haushaltsüberschüsse schaffen nur Irland, Dänemark und Portugal. Ganz offenkundig hat sich eine unglaubliche fiskalische Schlamperei eingenistet, unabhängig davon ob die Regierungen links, rechts oder mittig waren. Und dies, obwohl die Staatseinnahmen inflationsbedingt überall auf Rekordhöhen kletterten. Da nirgendwo ernsthafte Sanierungsmaßnahmen erkennbar sind wachsen die Schulden weiter munter. Das wird zum Problem bei der nächsten Finanzkrise, die so sicher kommen wird wie das Amen in der Kirche.

Die Hauptschuldnerländer der EU – Griechenland (161,9 Prozent des BIP), Italien (137,3 Prozent), Frankreich (110,6 Prozent), Spanien (107,7 Prozent) und Belgien (105,2 Prozent) – werden dann aus der Kurve getragen. Die zweit-, dritt- und viertwichtigsten Volkswirtschaften der EU sind einfach zu groß, um wie im Falle Griechenlands 2010/11 mit einem EU-Rettungspaket vor dem Staatskonkurs bewahrt zu werden. Dazu steigen überall die Ausgaben für die digitale und die Klimawende, die Sozialleistungen, die Pensionsverpflichtungen und neuerdings auch die Rüstungsausgaben.

Schuldenanteil am Bruttoinlandsprodukt Ende 2023 (Angabe in Prozent) Quelle: Eurostat Grafik: JF

Gefährliche Neuverschuldungen in Frankreich und Italien

Der Fall Italiens ist besonders dramatisch, da weder die Banken saniert wurden, das Land demographisch besonders stark altert und laut Kommissionsbericht auch Produktivitätsfortschritte ausbleiben. Giorgia Melonis Finanzminister Giancarlo Giorgetti von der Lega dagegen hofft als „unverbesserlicher Optimist“ auf eine wundersame Konjunkturerholung, die die Neuverschuldung ohne Zutun bis 2026 auf drei Prozent reduzieren wird.


In Frankreich, wo die liberale Partei Renaissance von Emmanuel Macron bei den Neuwahlen am 30. Juni und 7. Juli auf eine Niederlage zusteuert, gibt es derweil zwischen rechts und links eine Steigerung der Wahlversprechen, frei nach dem Motto: Wer bietet mehr? So werden die Kosten der versprochenen Steuer- und Energiepreissenkungen und des auf 60 Jahre vorgezogenen Renteneintrittsalters des rechten Nationalen Zusammenschlusses (RN) auf zusätzlich 100 Milliarden geschätzt.

Die Versprechungen der linken Neuen Volksfront (NFP) gar auf 268 Milliarden. Bruno Le Maire, derzeit noch Wirtschafts- und Finanzminister, erwartet deshalb nach dem wahrscheinlichen Wahlsieg einer der beiden eine baldige Vormundschaft Frankreichs durch den Internationalen Währungsfonds (IWF). Ein Staat der illiquide ist, verliert auch seine Souveränität. Entsprechend beunruhigt sind die Finanzmärkte.

Die Konsumausgaben lassen die Schulden steigen

Die Verwahrlosung der Staatsfinanzen begann 2011 mit der EZB-Präsidentschaft des italienischen Goldman-Sachs-Bankers Mario Draghi, der ebenso wie seine Nachfolgerin, die von Macron durchgesetzte Christine Lagarde, hemmungslos und vertragswidrig Staatsschulden aufkaufen ließ und ein Jahrzehnt lang auf Kosten der Sparer des Nordens im Interesse der Schuldnerländer Nullzinsen verordnete. Mit jenem massiven automatischen Kapitaltransfer Nord-Süd erlosch in der romanischen Welt jeglicher Anreiz zu schmerzlichen Haushaltssanierungen.

Im Gegenteil. Der konsumptive Anteil der Staatsausgaben und der Beamtenapparat wurden überall aufgebläht. Energiepreise wurden kräftig subventioniert, die Renten erhöht und Haussanierungen fast zum Nulltarif angeboten. Durch den damit ausgelösten Inflationsauftrieb kosten nach der Zinswende alle jene Herrlichkeiten den Staat jetzt plötzlich wieder knapp gewordenes Geld. Mario Draghi hat seiner Heimat damit einen Bärendienst erwiesen.

Klima und Ukraine dienen als Ausrede

Und was passiert mit den Kommissionsberichten? Wahrscheinlich nicht viel. Bis zum 20. September müssen die betroffenen Finanzminister in Brüssel mittelfristige Finanzpläne vorlegen. Dem dortigen Bruegel-Institut zufolge liegt der Sparbedarf während der Jahre 2025 bis 2028 in Frankreich, Italien, der Slowakei und Belgien allein bei 3,5 Prozent bis 4,6 Prozent des BIP. Auch in Österreich fordert der Fiskalrat angesichts der ständig wachsenden Staatsschulden drastische Einsparungen durch den Finanzminister „gleich welcher Farbe“ nach den September-Wahlen.

Die EU-Finanzminister müssen den Kommissionswarnungen dann im Herbst noch zustimmen. Eher unwahrscheinlich, daß sie ihre Selbstfesselung und Bestrafung absegnen werden. Eher werden sie wieder außergewöhnliche Umstände vom Klima bis zur Ukraine geltend machen. Ihre drängenden und bedrohlichen Schuldenprobleme werden von der üblichen Schönfärberei jedoch nicht verschwinden.

JF 27/24

EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni: Verkündet ein Defizitverfahren für Länder, die derzeit zu viele Schulden aufnehmen Foto: picture alliance/dpa/Belga | Nicolas Landemard
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