Wütend protestierten am 21. April 2005 über tausend Chemiewerker aus 140 mittelständischen Firmen am Brandenburger Tor gegen die EU-Richtlinie Reach. Letzte Woche brachte das Bayerische Fernsehen einen Bericht über betroffene Mittelständler, die dank Reach massive Probleme bekommen könnten. Einer 2004 durchgeführten Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelstages (DIHT) zufolge rechnen etwa die Hälfte von 1.800 befragten Chemiefirmen, Händlern oder Chemikalienanwendern mit sinkenden Umsätzen. Eine Studie der Wiesbadener Beraterfirma Arthur D. Little prognostiziert für die kommenden zwei Jahrzehnte einen Rückgang in der Chemieproduktion von fast 25 Prozent – wegen Reach. Die EU-Richtlinie zur „Registrierung, Evaluierung und Autorisierung von Chemikalien“ stellt völlig neue Regeln für die Zulassung von Chemikalien auf. Erstmals vorgestellt wurde Reach am 29. Oktober 2003 von der damaligen EU-Umweltkommissarin Margot Wallström und EU-Wirtschaftskommissar Erkki Liikanen. Das EU-Parlament soll – nach mehreren Änderungen – im Laufe dieses Jahres endgültig über Reach entscheiden. Erste Überlegungen zu einem neuen Chemikalienrecht gehen auf das Jahr 1998 zurück, seitdem hält der Diskussionsprozeß auf europäischer Ebene an. Tausende Betroffene in Wirtschaft und Umweltverbänden meldeten sich mit Einwänden und Ideen zu Wort. Das Hauptziel von Reach liegt in einem einheitlichen Verfahren der Zulassung für alle Chemikalien, die in der Industrie verwendet werden. Insbesondere das Aufarbeiten „chemischer Altlasten“ ist seit langem ein Problem. Als in Deutschland 1982 das Chemikaliengesetz eingeführt wurde, trat für bereits im Handel befindliche Stoffe eine Sonderregelung in Kraft. Alle Stoffe, die bis zu einem Stichtag gemeldet wurden, mußten nicht dem Zulassungsverfahren für Neustoffe unterworfen werden. Ungefähr 100.000 Stoffe wurden als Altstoffe registriert. Auf EU-Ebene galt ähnliches. Der Streit um Reach fokussiert sich auf die Frage, wie mit diesen Altstoffen umgegangen werden soll. Die Altstoffe stellen bis heute den allergrößten Teil der chemischen Produktion. Seit Erlaß des Chemikaliengesetzes wurden nur 3.000 Stoffe nach den neuen Richtlinien registriert und zugelassen. Umweltschützer unterstellen deshalb, der größte Teil der chemischen Produktion werde völlig unkontrolliert in Umlauf gebracht. Das ist nur teilweise richtig. Die Altstoffe mußten zwar nicht einem einheitlichen Zulassungsverfahren unterzogen werden. Allerdings untersuchte man jene Altstoffe, für die nach toxikologischen und chemischen Grundsätzen eine Gefährdung angenommen werden konnte und die in relevanter Menge produziert werden. Außerdem galten für alle Stoffe selbstverständlich weiterhin jene Überprüfungs- und Zulassungsvorschriften, die aus ihrer Anwendung und nicht nur aus ihrer bloßen Produktion resultierten. Die klare Vorgabe, alle Stoffe nach gleichen Kriterien zu bewerten, wird auch von Reach nicht umgesetzt. Nach dem neuesten Reach-Entwurf werden auch in Zukunft Stoffe je nach ihrer Produktionsmenge, Verwendung und vermuteten Gefährlichkeit unterschiedlich intensiv geprüft. Wirtschaft und Umwelt prallen direkt aufeinander Die Frage, in welchem Ausmaß welcher Stoff von wem geprüft werden soll, macht den größten Teil des Streits um Reach aus, weil hier Wirtschaft und Umwelt direkt aufeinanderprallen. Der Entwurf zu Reach sieht jetzt folgendes vor: Alle in der EU produzierten oder importieren Stoffe müssen registriert werden, soweit die Jahresmenge eine Tonne pro Firma übersteigt (betrifft etwa 30.000 Stoffe). Bei der Registrierung sind Angaben zu den Stoffeigenschaften zu machen. Die Angaben beschränken sich bei Stoffen bis zehn Tonnen aber auf ein Minimum. Es gelten Übergangsfristen, nach Menge gestaffelt bis zu elf Jahre. Die Kosten müssen von den Produzenten und Importeuren getragen werden. Für bestimmte Stoffkategorien gelten schärfere Vorschriften, wenn sie bereits als gefährlich bekannt sind. Andere Kategorien, etwa Polymere (Kunststoffe) wurden ganz aus der Prüfliste gestrichen. Bereits gesammelte Daten zu Stoffen werden zentral erfaßt und bei weiteren Anträgen verwendet. Inzwischen liegen rund drei Dutzend Gutachten zu Reach vor. In der jüngsten Untersuchung des Beratungsunternehmens KPMG werden die wirtschaftlichen Folgen als „beherrschbar“ bezeichnet. Allerdings gibt selbst die EU-Kommission zu, daß die Kosten für die ursprünglich vorgesehene Version von Reach um ca. das Fünffache höher gelegen hätten als die jetzt angenommenen 5,2 Milliarden Euro. So war die ältere Arthur-D.-Little-Studie zu dem Schluß gekommen, daß über zwei Millionen Arbeitsplätze verlorengehen könnten. Dies wird mittlerweile als unrealistisch eingestuft. Jedoch zeigt auch die KPMG-Studie Probleme, hauptsächlich für den Mittelstand. Bei der Diskussion um Reach hält sich die chemische Großindustrie bedeckt, während durch die kleineren Betriebe eine Woge der Empörung geht. Die kleineren Unternehmen sehen sich besonders belastet. Der Grund ist in einem prinzipiellen Richtungswechsel der Chemikalienpolitik zu sehen. Die Verantwortlichkeit und auch die Durchführung einer Chemikalienregistrierung soll in Zukunft nicht mehr bei staatlichen Stellen liegen. Stolz verkündet der grüne Umweltminister Jürgen Trittin in einem Positionspapier vom September 2004: „Die Industrie wird für die Risikobewertung ihrer Stoffe verantwortlich gemacht.“ Das bedeutet aber: Jeder einzelne Produzent wird verpflichtet, für jedes seiner Produkte ein eigenes Prüf- und Registrierungsverfahren durchzuführen. „Die Industrie“ gibt es eben nicht als Rechtssubjekt. Kleine Unternehmen, die Spezialchemikalien in geringen Mengen herstellen, sind von den neuen Anforderungen stärker betroffen als die Großproduzenten mit ihren gut geölten Verwaltungs- und Rechtsabteilungen. Auch die Möglichkeit, ein Registrierungskonsortium für einen Stoff zu bilden, ändert wenig daran. Ein weiterer Effekt der neuen Verantwortlichkeit: Eine Zulassung eines Stoffes staatlicherseits, auf die man sich als Produzent berufen könnte, findet im Normalfall nicht mehr statt. Der Staat hat zwar das Recht, die vom Produzenten gemachten Angaben zu einem Stoff zu überprüfen. Er hat aber nicht die Pflicht dazu. Wenn es also zu einem Streit um eine Chemikalie kommen sollte, so könnten die im Laufe der Registrierung gemachten Angaben angezweifelt werden. Die Beweislastumkehr bei Reach bedeutet somit maximale Bürokratie bei minimaler (Rechts-)Sicherheit.