Frits Bolkestein, langjähriger Auslandsmanager des Ölkonzerns Shell, danach niederländischer Minister und dann bis 2004 EU-Binnenmarktkommissar, steht in dem Ruf, ein "Radikalliberalisierer" zu sein. Bolkestein war es, dem die Freiheit beim Handel mit Unternehmungen noch nicht weit genug ging. Firmenaufkäufe dürfen seiner Ansicht nach nicht durch staatliche Beschränkungen behindert werden.
Dies ist auch der Inhalt einer entsprechenden EU-Richtlinie, der Anfang 2004 die europäischen Regierungen zustimmten. Deutschland hatte bereits 1998 – auch auf Druck von Bolkestein – etwa die Mehrfach- und Höchststimmrechte, die einen gewissen Riegel gegen feindliche Übernahmeversuche darstellten, freiwillig abgeschafft. Vollständig wurde, so Hermann Patzak in einem Beitrag für die Internetseiten der Staatsbriefe, Bolkesteins Anliegen im Übernahmegesetz aus dem Jahre 2001 seitens der rot-grünen Bundesregierung Rechnung getragen.
Andere Länder waren da weniger bereitwillig, kamen aber weitgehend ungeschoren davon. So drängt sich nach Patzak der nicht unbegründete Verdacht auf, daß es die Intention der EU-Kommission war, "in erster Linie den deutschen Unternehmungen die Abwehr von Unternehmensaufkäufen zu erschweren". Obwohl die Bundesregierung das Beispiel der Zerschlagung des Mannesmann-Konzerns durch den britischen Telekommunikationskonzern Vodafone vor Augen hatte (Frühjahr 2000), unternahm sie offensichtlich wenig bis nichts, um Bolkestein in den Arm zu fallen.
Zu Bolkesteins Erbe gehört auch die EU-Richtlinie zur Erbringung von Dienstleistungen im Binnenmarkt. Anfang 2004 hat die EU den Vorschlag für diese Richtlinie verabschiedet. Die offizielle Begründung für diese Initiative lautet: Mit der Richtlinie sollen die in den EU-Mitgliedstaaten bestehenden bürokratischen Hindernisse für die grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen abgebaut werden. Zehn Jahre nach Abschluß des Maastrichter Vertrages soll in der EU "Dienstleistungsfreiheit" hergestellt werden. Die Bundesregierung und die von der Industrie beherrschten Spitzenverbände der Wirtschaft haben bereits signalisiert, daß sie die Ziele und Inhalte dieser Richtlinie für richtig und gut erachten. Geht es nach dem Willen der EU-Kommission, soll im Hinblick auf die Erbringung von Dienstleistungen demnächst das Herkunftslandprinzip gelten. Führt beispielsweise ein spanisches Dienstleistungsunternehmen in Deutschland einen Auftrag durch, muß es nur das spanische Recht beachten. Mit anderen Worten: Wird diese Richtlinie durchgesetzt, gelten in Deutschland demnächst 25 verschiedene Rechtsordnungen. Genau dies beabsichtigt die Kommission: Sie hat ausdrücklich festgehalten, daß sie den Wettbewerb der unterschiedlichen Rechtssysteme "wünscht". Angeblich "archaische und aufwendige Vorschriften" müßten verschwinden, lautet – mit der gewohnten Arroganz – die Brüsseler Zielvorgabe.
Festzuhalten bleibt, daß die Kommission hier den Vorgaben des Europäischen Rates nachkommt, in dem u. a. die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten und damit auch Bundeskanzler Gerhard Schröder Mitglieder sind. Die Richtlinie ist Teil eines Wirtschaftsprozesses, der eingeleitet wurde, um die EU bis zum Jahre 2010 zum "wettbewerbsfähigsten und wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt" zu machen. Die richtige Adresse für die jetzt einsetzenden Proteste gegen die Dienstleistungsrichtlinie ist also weniger die Kommission als vielmehr die rot-grüne Bundesregierung, die hierfür ihr Plazet erteilt hat.
Die Konsequenzen dieser Richtlinie liegen auf der Hand: Sie führt unweigerlich zu einem aberwitzigen Wettlauf um die niedrigsten Standards bei der Ausübung eines bestimmten Dienstleistungsgewerbes und bei den Arbeits-, Sozial- und Berufsausbildungsvorschriften. Weiter liegt es nahe, daß die Anbieter von Dienstleistungen als Firmensitz das EU-Land mit den niedrigsten Standards wählen werden, um dann nach den günstigsten Herkunftslandbedingungen arbeiten zu können. Gemäß der Richtlinie reicht bereits eine Briefkastenfirma (etwa in Litauen oder der Slowakei), um von einschlägigen deutschen Belastungen befreit zu werden. Länder wie Deutschland und Österreich, die bei Berufsausbildung und Gewerbebestimmungen hohe Standards haben, müssen damit rechnen, daß diese regelrecht ausgehöhlt werden.
Ist bereits diese Konsequenz bedenklich genug, können andere Details nur als abenteuerlich bezeichnet werden. So sieht die Richtlinie etwa vor, daß am Ort der erbrachten Leistung die Vorlage von Sozialversicherungsunterlagen nicht verlangt werden dürfe. Selbst Aufenthalts- und Beschäftigungsbewilligungen sollen nicht kontrolliert werden dürfen. Die heimischen Behörden wären demnach von jeder Art der Kontrolle ausgeschlossen. Die Folge: Schwarzarbeit und Steuerhinterziehung könnten so gut wie nicht mehr bekämpft werden.
Die Kommission (als verlängerter Arm des Willens der EU-Regierungschefs, wird hier wohl zu ergänzen sein) hat damit keineswegs nur, wie Michael Scherer im stets wirtschaftsliberalen Düsseldorfer Handelsblatt insinuiert, "Europas Linke in Rage versetzt". Scherer muß zugestehen, daß auch die deutsche Bauindustrie zu den heftigsten Gegnern dieser Richtlinie gehört, die Schulter an Schulter mit der globalisierungskritischen Bewegung Attac kämpfe.
Daß Bundeskanzler Schröder diese Richtlinie lobt und sein Parteigenosse Wirtschaftsminister Wolfgang Clement sie gar als "Hebel zum Umbau unserer Administration und zum Abbau überflüssiger Standesregeln" feiert, kann nicht verwundern. Sie haben der EU-Kommission hierfür die Ermächtigung erteilt. Anderen EU-Regierungschefs hingegen dämmert inzwischen, was sie da angerichtet haben. Sie wollen jetzt Ausnahmen von der Regel. Zahlreiche Dienstleistungen sollen aus der Richtlinie ausgeklammert werden.
Von der Bundesregierung ist hingegen nicht bekannt, daß sie sich mit gebotenem Nachdruck für deutsche Interessen einsetzt. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall, wie Clements Einlassung zeigt. Stand die Sozialdemokratie nicht einmal für die Verteidigung der Sozialen Marktwirtschaft und dafür, das vagabundierende Kapital in die Schranken weisen zu wollen? Heute führen die Sozialdemokraten "soziale Verantwortung" bestenfalls noch im Mund. Tatsächlich sind sie längst zu Schrittmachern eines Raubtierkapitalismus (Helmut Schmidt) nach US-Vorbild geworden. Sollte die Richtlinie in der vorliegenden Fassung tatsächlich umgesetzt werden, steht eines bereits jetzt fest: Die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland wird weiter nach oben schnellen.