Die Entscheidung wurde im April 2001 getroffen: Damals trug das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber auf, die Beitragszahlungen zur gesetzlichen Pflegeversicherung (GPV) neu zu regeln, da die Gleichstellung von Eltern mit Kinderlosen als ungerecht erachtet wurde. Gut drei Jahre später haben sich SPD und Grüne nun nach monatelangem Streit offenbar darüber geeinigt, wie dies ins Werk zu setzen ist. Nach der Sommerpause soll es einen Gesetzentwurf geben, der für Kinderlose ab 23 Jahre einen um 0,25 Prozent höheren Beitrag vorsieht. Dieser läge dann ab 2005 bei 1,95 Prozent der beitragspflichtigen Einnahmen, für Versicherte mit Kindern weiterhin bei 1,7 Prozent, wovon die Arbeitgeber jeweils unverändert 0,85 Prozent trügen. Eine Entlastung der Familien (oder auch der Arbeitgeber) findet mithin allenfalls indirekt statt – wer Kinder hat muß keinen höheren Beitrag zahlen. Dafür sollen demnächst etwa zehn bis 15 Millionen Beitragszahler tiefer in die Tasche greifen. Die zusätzlichen Einnahmen von geschätzten 800 Millionen Euro werden in absehbarer Zeit allerdings nicht zu Leistungsverbesserungen führen. Vielmehr muß damit das wachsende Defizit der GPV aufgefangen werden. Laut FAZ soll der Fehlbetrag sich in diesem Jahr auf 950 bis 980 Millionen Euro belaufen, also auf deutlich mehr als die 750 Millionen Euro, von denen die Bundesregierung ausgeht. Die umlagefinanzierte Pflegeversicherung wurde 1995 unter CDU-Sozialminister Norbert Blüm – mit Zustimmung der Opposition – als eigenständiger Sozialversicherungszweig eingeführt. Ihre Mitglieder sind im wesentlichen die Versicherten der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) sowie deren beitragsfrei mitversicherten Ehegatten und Kinder – sofern diese keiner anderen Versicherungspflicht unterliegen oder ganz von ihr befreit sind. Derzeit leben in Deutschland fast zwei Millionen Pflegebedürftige – etwa 530.000 davon sind in Heimen untergebracht. Die GPV-Leistungen reichen vom monatlichen Pflegegeld über 205 Euro der Stufe I bei häuslicher Versorgung bis zu 1.432 Euro bei stationärer Pflege der Stufe III. Privat krankenversicherte Selbständige oder Beamte müssen eine Privatversicherung abschließen. Vor 1995 waren Pflegebedürftige häufig auf die Sozialhilfe oder finanzielle Unterstützung von Verwandten angewiesen – weshalb Kritiker manchmal den Begriff „Erbenversicherung“ verwendeten. Nach Bekanntwerden der Pflegereform sind Stimmen laut geworden, die die Abschaffung der Versicherung fordern. So möchte der Paritätische Wohlfahrtsverband nicht nur Arbeitnehmer und Arbeitgeber an der Finanzierung beteiligt wissen, sondern alle Bürger. Auch der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Dieter Hundt, sieht die Entlastung von Eltern als gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die daher aus dem allgemeinen Steueraufkommen finanziert werden müsse. Diese Vorstellungen hält das Sozialministerium von Ulla Schmidt (SPD) für nicht finanzierbar. Auch CDU-Sozialexperte Andreas Storm teilt die Ablehnung des steuerfinanzierten Systems, da es eine „Pflege nach Kassenlage“ zur Folge habe und letztlich wieder die Sozialhilfe einspringen müsse. Die Pläne der Regierung zur einseitigen Belastung Kinderloser, anstatt der Entlastung von Familien, betrachtet Storm aber als Mißbrauch des Urteils. Der Sozialverband VdK spricht gar von einer „Strafgebühr“ für Kinderlose. VdK-Präsident Walter Hirrlinger (SPD) prophezeit rechtliche Schritte derjenigen, die aus medizinischen Gründen keine Kinder bekommen können. Er favorisiert die Zusammenlegung der gesetzlichen Pflege- und der Krankenversicherung. Das Bundesverfassungsgericht hatte eine „relative Entlastung“ der Familien bis zum 1. Januar 2005 angemahnt, andernfalls dürften ab diesem Datum keine Beiträge zur Pflegeversicherung mehr erhoben werden. Dahinter steht der Gedanke, daß Kinderlose von anderer Leute Lebensleistung profitieren, welche künftige Beitragszahler großziehen. Nach Berechnungen des Deutschen Kinderschutzbundes betragen die Kosten eines Kindes bis zu seinem 18. Geburtstag 155.000 Euro. Rechne man den fiktiven Gehaltsausfall von Elternteilen hinzu, die während des Heranwachsens der Kinder zuhause bleiben, seien es im Schnitt sogar 455.000 Euro. Für eine Entlastung der Familien ist kein Geld im Bundeshaushalt. Der höhere Beitrag für Kinderlose stellt sogesehen keine Strafe dar, sondern eine notwendige Stützung des Sozialsystems – des bestehenden wohlgemerkt. Aufgrund der demographischen Entwicklung gerät dieses System der Umlagefinanzierung an seine Grenzen. Die bislang großzügigen Sozialleistungen entspringen nicht nur der deutschen Wirtschaftskraft, sondern auch der Tatsache, daß bislang verhältnismäßig wenig Alte und Kinder zu versorgen waren. Diese „goldenen Zeiten“ des „demographischen Hedonismus“ (siehe „Die Pyramide steht Kopf“ von Roland und Andrea Tichy, Piper-Verlag 2003) gehen zu Ende. Seit 1973 gibt es mehr Sterbefälle als Geburten. Eine rechtzeitige aktive Familienpolitik wurde versäumt. Dank des rasanten medizinischen Fortschritts steigt die Lebenserwartung immer weiter an – aber auch die Zahl der Pflegefälle wächst. Den erhöhten Ausgaben stehen Einnahmeausfälle gegenüber, bedingt durch verlängerte Ausbildungszeiten, steigende Arbeitslosigkeit, Teilzeitbeschäftigung, Frühverrentung und Schwarzarbeit. Weder der Regierungskompromiß, noch eine Zusammenlegung von Kranken- und Pflegeversicherung oder eine Finanzierung durch Steuern entschärfen langfristig die finanzielle Sprengwirkung dieser Entwicklung. Nicht nur die schon 1995 skeptische FDP, Unternehmervertreter oder der Bund der Steuerzahler, sondern auch immer mehr Unionspolitiker fordern als Ausweg einen schrittweisen Übergang von einer umlagefinanzierten zu einer kapitalgedeckten Pflegeabsicherung. Daraus folgt allerdings eine hohe Belastung für die Übergangsgeneration, die sowohl für die jetzigen Pflegefälle als auch für den Kapitalaufbau der eigenen Pflegeabsicherung aufkommen müßte. Der Freiburger Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen schlägt einen „geordneten Ausstieg“ vor, bei dem nur die über 60jährigen in der gesetzlichen Kasse verbleiben und einen Pauschalbetrag von 50 Euro im Monat zahlen, während die Jüngeren 0,7 Prozent ihres Bruttoeinkommens in die gesetzliche Pflegeversicherung einzahlen und zusätzlich im Schnitt etwa 40 Euro an private Versicherer. Das sind bei einem durchschnittlichen „Eckrentner“ mit etwa 1.140 Euro im Monat allein fast 4,4 Prozent Pflegebeitrag! Auch Raffelhüschens 40 Euro sind eher theoretischer Natur – private Versicherungsunternehmen verlangen von Jungen und Gesunden in der Regel niedrige Einstiegsbeiträge, Ältere und Vorerkrankte zahlen einen Risikoaufschlag. Beitragssteigerungen im zweistelligen Prozentbereich sind bei Privatkassen auch keine Ausnahme. Politisch durchsetzbar scheinen solche Privatmodelle daher nur durch flankierende, steuerfinanzierte Zuschüsse, die Niedrigverdienern Entlastungen schaffen. Doch derartige Subventionsversprechen sind schon in den CDU-Modellen der einheitlichen Kopfpauschale von 180 bis 200 Euro in der GKV und den 66 Euro für die Pflegepauschale enthalten: Angesichts der defizitären öffentlichen Haushalte ohne seriöse Deckung allerdings – oder die ebenfalls versprochene radikale Steuerreform wird eine milliardenschwere Steuererhöhung.
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