Die Schnecke verkörpert für den modernen Menschen vor allem das, was er auf keinen Fall sein will: Langsamkeit. Daher ist sie das ideale Symbol gegen den Zwang der modernen Gesellschaft, die der Zeit dauernd hinterherläuft. Das dachten zumindest 1984 die Initiatoren einer Bewegung, die am vergangenen 10. November in Turin ihren 4. Weltkongreß veranstalten konnte. Die Rede ist von den „Ökogastronomen“, die sich im Zeichen der Schnecke zu einem Netzwerk „langsames Essen“ (Slow Food) zusammengeschlossen haben. Kritiker sehen in diesem Verein einen Klub elitärer Gourmets, die auf der Jagd nach immer neuem Geschmackskitzel vergessene Rezepte wälzen. Die Ziele von Slow Food gehen aber weit über die – im übrigen lobenswerte – Wiederentdeckung verdrängter Eßkultur hinaus. Nach eigener Definition versucht Slow Food den Genuß mit Verantwortungssinn für die Umwelt und die Landwirtschaftsprodukte zu verbinden. Denn es mache keinen Sinn, sich der Gastronomie zu widmen, ohne dabei gleichzeitig auf die Bewahrung der lokalen Küchen und den Schutz alter Tierrassen und Gemüsesorten zu achten, die vom Verschwinden bedroht seien. Slow Food baut auf ein weniger intensives, „saubereres“ Landwirtschaftsmodell, das die biologische Vielfalt bewahrt und verbessert und zugleich auch den ärmsten Regionen der Welt eine Chance bietet. Um das zu erreichen, kämpft Slow Food gegen die Industrie- und Fast-Food-Kultur, weil diese die vielfältigen Geschmackskulturen standardisiert. Als Gegenmittel unterstützt die Bewegung handwerkliche Produzenten und fördert die Herstellung von hochwertigen regionalen und natürlichen Produkten, bis hin zu den kulinarischen Traditionen. Anders als die ersten „Ökos“ versucht Slow Food die Menschen nicht durch ungenießbare Körnerpampe zur Einsicht zu bringen, sondern lockt mit einer „Philosophie des Genusses“ und des „bewußten Konsums“. Da für die denaturierten großstädtischen Zeitgenossen „Genuß“ ein leerer Begriff ist, haben die „Bremser“ Geschmacksbildungsprogramme für Kinder und Erwachsene entwickelt, mit denen sie behutsam versuchen, die durch „Fast Food“ und Industrie-Produkte verkümmerten Geschmacksnerven wieder zu aktivieren. Der Anstoß zu dieser Initiative kam aus den USA, wo Slow Food erfolgreich ein Schulgarten-Projekt verwirklichte. Daß ein Weizenkorn mit Brot direkt in Verbindung zu bringen ist, war für manches „Supermarkt-Kid“ eine echte Erleuchtung. Damit die Menschen einer Region auch mal etwas anderes auf dem Teller haben als Ware aus der unmittelbaren Nachbarschaft, akzeptieren die Ökogenießer auch den Tourismus – allerdings nur seine sanfte Variante. Auch auf Reisen sollen die regionalen Besonderheiten geschützt und geschätzt werden. Ihren Ursprung nahm die Bewegung im piemontinischen Städtchen Bra. Seitdem hat sie in 45 Ländern Fuß gefaßt. Seit 1989 gibt es einen Dachverband, Slow Food International, der die in 600 Untergruppen („Convivien“) organisierten 75.000 Mitglieder vertritt. Anstöße zu Aktionen gegen die Hast entstehen in den Convivien, die zusätzlich untereinander vernetzt sind. Es gibt also praktisch keine hierarchische Struktur, sondern einen gleichrangigen Zusammenschluß Gleichgesinnter. Präsident der „Bremser“ ist der Italiener Carlo Petrini, der auf dem Kongreß in Turin von den 650 Delegierten aus fast 40 Ländern einstimmig wiedergewählt wurde. Um medial noch wirksamer zu werden, verlieh man erstmals die Auszeichnung „Kulinarisches Kulturerbe“. Fortan dürfen sich die Kaffeehäuser „A la morte subite“ in Brüssel und das 1763 gegründete „Caffè al Bicerin“ in Turin mit diesen Federn ebenso schmücken wie die süditalienische Kellerei „Feudi di San Gregorio“, die eine 200 Jahre alte Rebanlage bewirtschaftet. Den Orden für persönliche Verdienste erhielt unter anderen die Moskauer Ärztin Galina Poskrebychewa für ihre Sammlung von 10.000 traditionellen russischen Rezepten; weitere Orden blieben bei Aktivisten der Region. Um nicht den Eindruck einer italienisch-burgundischen Mauschelei zu erwecken, verkündete Petrini, der nächste Weltkongreß werde in einem Entwicklungsland stattfinden, um so die „Solidarität mit dem Süden“ auszudrücken. Vorher jedoch möchte der Präsident noch eine richtige Sensation verwirklichen: Zum nächsten Salone del Gusto im kommenden Jahr sollen 5.000 Bauern, Fischer und Kleinproduzenten aus aller Welt nach Turin kommen, um so die Vielfalt der Kulturen zu demonstrieren. Schon bei dem diesjährigen Weltkongreß konnte man allerlei Exotisches bestaunen. Zum Beispiel den 72jährigen Tierarzt Kuular Darjaa aus der russischen Republik Tuva, der als Sprößling eines Nomadenstammes in traditioneller Kluft nach Turin gekommen war, um den „Slow Food Award for defense of biodiversity“ zu empfangen. Damit wurde Darjaas Einsatz gewürdigt, in der Mongolei alte Rinderrassen zu züchten, die den dortigen Witterungsverhältnissen besser trotzen können. Alte Haustierrassen und halbvergessene Nutzpflanzen sind nach dem Willen der „Bremser“ die „Archen des Geschmacks“, die es systematisch zu retten gilt. In Neapel wurden auf einem zentralen Platz drei Tage lang 120 solcher stummen Zeugen vorindustrieller Vielfalt ausgestellt. Slow Food möchte erreichen, daß in jedem Land der Welt derartige „Archen“ entstehen.