Im Schatten des angloamerikanischen Bagdad-Feldzugs und im Lärm des Anti-Irakkrieg-Lamentos der Bundesregierung tritt die jüngste Brandrede Gerhard Schröders zu den anstehenden Wirtschaftsreformplänen immer weiter in den Hintergrund. Dem Bundeskanzler könnte dies durchaus recht sein, blieben die angekündigten Neuerungen doch weit hinter den Erwartungen zurück, die nicht zuletzt Schröder selbst durch die aufputschende Vorinszenierung seiner Rede bei der Bevölkerung erweckte. So kreißte der Berg und gebar ein Mäuslein. Besonders enttäuschend wirkte die Rücknahme einiger Reformvorhaben noch während seiner Rede, nachdem diese in der Vorankündigung bereits als beschlossene Sache erschienen. So brachte es der angebliche „Kanzler der Bosse“ nicht über sein gewerkschaftlich links schlagendes Herz, wesentliche und wirksame Einschnitte im Arbeitsrecht in Angriff zu nehmen. Die gewerkschaftliche Mitbestimmung bleibt wie sie ist, die Mindestbetriebsgröße, ab der der besondere Kündigungsschutz greift, bleibt erhalten und das Diktat der Flächentarifverträge bleibt weiterhin bestehen. Zwar werden marginale Änderungen in diesen Bereichen versprochen, die aber sind jedoch ohne Durchschlagskraft oder werden zugleich durch Verhinderungsklauseln abgemildert. So sollen beispielsweise betriebsinterne Tarifvereinbarungen künftig stärker als bisher ermöglicht werden, gleichzeitig wird aber auch den Tarifparteien ein Vetorecht gegenüber solchen Vereinbarungen eingeräumt. Ähnliche Ungereimtheiten und Halbherzigkeiten finden sich auch in den Vorschlägen zum Kündigungsschutz. Statt die Zahl der Beschäftigten anzuheben, ab der die Unternehmen die volle Last der Kündigungsschutzregelungen trifft, will Schröder befristet Beschäftigte und Leiharbeiter aus der Zählung herausnehmen. Das zwingt die Kleinbetriebe geradezu, sich künftig nur noch mit solchen Mitarbeitern zu umgeben. Dauerhafte Beschäftigungsverhältnisse werden damit kaum geschaffen. Gleiches gilt für die geplante Existenzgründerregelung. Kleinbetriebe dürfen nur vier Jahre lang befristet einstellen. Als ob danach eine Garantie für eine sichere Existenz des Unternehmens gewährleistet wäre. Die mangelhafte Berücksichtigung der Zielgröße Beschäftigungsexpansion zieht sich wie ein roter Faden durch die Schröderschen Reformphantasien. Statt dessen bestimmen Drohgebärden und Rückzugsgefechte die Regierungsvorschläge. Ausbildungsabgabe ab 2004, wenn die Wirtschaft nicht genügend Lehrstellen anbietet, Kürzung des Arbeitslosengeldes und Senkung der Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau, verschärfte Zumutbarkeitsregelung bei neuen Beschäftigungsangeboten und Arbeitspflicht für alle unter 25 Jahren. Nun sind die wenigsten der offiziell fast fünf Millionen Arbeitslosen Drückeberger und der Zustand der Arbeitslosigkeit nur selten einseitiger Ausdruck einer mangelnden Arbeitsbereitschaft. Es fehlt schlicht an Arbeitsstellen und die werden nicht durch die Bestrafung der Arbeitslosen geschaffen. „Reförmchen“ im Bereich der staatlichen Vorsorge Zudem ist das Arbeitslosengeld eine Versicherungsleistung, für die in Zeiten der Beschäftigung Versicherungsbeiträge gezahlt wurden. Über die Anhebung dieser Beiträge nachzudenken, verbietet die wirtschaftspolitisch richtige Auffassung des Kanzlers, daß die Lohnnebenkosten die Grenze des ökonomisch Sinnvollen längst überschritten haben. Auf der anderen Seite wäre aber auch die Verprivatisierung der Arbeitslosenversicherung denkbar. So mancher Versicherte könnte bei einer nichtstaatlichen Arbeitsversicherung ähnlich wie bei der Kranken- und Rentenversicherung mit deutlich niedrigeren Beitragssätzen rechnen. An diesen Staatseinnahmen will die Bundesregierung jedoch nicht rütteln. Das belegt Schröder auch mit seinen zaghaften „Reförmchen“ im Bereich der staatlich organisierten Vorsorge. So will der Kanzler, um die Beitragssätze zur gesetzlichen Krankenversicherung zu senken, die „Monopole der Kassen und Ärzte aufbrechen“, als ob es in Deutschland zu wenig Kassen und Ärzte gäbe. Zahnersatz und Sportunfälle bleiben trotz gegenteiliger Ankündigung weiterhin im Leistungskatalog erhalten. Warum dann künftig das Krankengeld privat versichert und die Versicherten pro Arztbesuch mit einer Eigenbeteiligung zur Kasse gebeten werden sollen, bleibt ein logisches Rätsel, das möglicherweise dadurch gelöst wird, daß auch diese Reformansätze demnächst wieder gestrichen werden. So ist schon jetzt davon die Rede, Arztbesuchszahlungen nur im Falle von Fachärzten zu erheben, die ohne Überweisung durch den Hausarzt vorgenommen werden. Selbst dann sollen Kinder-, Frauen- und Augenärzte ausgeklammert werden. Der große Reformentwurf Schröders leidet seit dem Zeitpunkt seiner Verkündung unter einer rapiden Schwindsucht. Das liegt vor allem an den Gewerkschaften, die schon vor der Rede zu einigen angekündigten Details heftigste Vorwarnungen äußerten, so daß der Kanzler in seiner Rede vorsichtshalber lieber zweimal mehr die Gewerkschaften lobte und dem bösen Kapitalismus mit seiner „ungezügelten Herrschaft des Marktes“ pflichtschuldig die politisch korrekte Rüge erteilte. Geholfen hat es ihm wenig, denn noch während seiner Rede verkündete der DGB sein Entsetzen über die „Unausgewogenheit“ der Reformabsichten. „Bitter enttäuscht“ zeigten sich die Gewerkschaften über das „Gegenteil von dem, was uns im Wahlprogramm versprochen wurde“. Ob sie deshalb den Gang zum „Lügenausschuß“ des Bundestages antreten, ist bisher nicht bekannt. Eher ist zu vermuten, daß ein Großteil der Schröderschen Reformvorschläge wieder sang- und klanglos in der Versenkung verschwindet. Was bleibt, dient kaum der Schaffung von Arbeitsplätzen, geschweige denn der Jahrhundertreform der Sozialsysteme. Für ernsthafte, das heißt wirkungsvolle und notgedrungen schmerzhafte Reformvorhaben fehlt der Regierung schlicht der Mut – vor allem sich gegenüber den Gewerkschaften durchzusetzen.
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