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Unter dem Diktat der Ökonomie

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Unter dem Diktat der Ökonomie

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Stolz präsentierte die Direktorin für Bildung bei der OECD, Barbara Ischinger, den OECD-Bericht „Bildung auf einen Blick 2008“ der Presse. Doch was sie zu sagen hatte, klang weniger zufrieden. „Im internationalen Vergleich kann die Entwicklung in Deutschland nicht befriedigen“, erklärte die Professorin und unterstrich, daß die globale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands vor dem Hintergrund des Geburtenrückgangs und des wachsenden Bedarfs an höher qualifizierten Fachkräften „deutlich gefährdet“ sei. Da war er wieder, der Bildungsnotstand: Schwarz auf weiß mit Skalen und Rankings. Wie fatal es allerdings sein kann, die Qualität und Leistungsfähigkeit komplexer Strukturen in quantifizierenden Skalen und Rankings abzubilden, hat die neueste Finanzkrise offenbart. Mit „Ausgezeichnet“ Bewertetes erwies sich als faul und die Maßeinheiten für Qualität und Sicherheit als untauglich. Mehr noch: Ebenso kläglich wie die Bewertungen scheiterten die Bewerter. Als Bewerter im Bildungsbereich tritt die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Erscheinung. Die in Paris ansässige Organisation versteht sich als zwischenstaatliche Konferenz von Industrieländern und sieht ihr Anliegen darin, Wirtschaftsentwicklung zu forcieren und materiellen Lebensstandard zu heben. Sie setzt ihre Ziele wirtschaftsliberal um und bewertet Bildungssysteme vor ebendiesem Hintergrund mit einer Vielzahl von Tests. Gerade die Überzahl der Tests und Studien zur deutschen Schule kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß es wissenschaftstheoretisch betrachtet keinen objektiven Blick auf die Bildungslandschaft geben kann. Denn alle Institutionen holen aus ihren Analysen grundsätzlich das heraus, was sie vorher intendierten. Die Ergebnisse gleichen eher dem konstruktivistischen Phänomen sich selbst erfüllender Prophezeiungen als kritischen Bestandsaufnahmen; sie werden politisch instrumentalisiert und so zum Medium tendenziöser Zwecke. Eine andere grundsätzliche Schwierigkeit liegt in der Semantik des Bildungsbegriffs selbst. Alle namhaften Analysen der OECD, der International Association for the Evaluation of Educational Achievement (IEA), des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung oder der deutschen Unternehmerverbände folgen jedoch kritiklos einer sich als modern verstehenden Auffassung von Bildung, die deren Vermarktwirtschaftlichung ebenso selbstverständlich findet wie die Ökonomisierung des gesamten Lebens. Keine der etablierten Schulleistungsstudien wie PISA, PIRLS und IGLU sowie die Mathematik-Leistungsanalyse TIMSS, bei denen die deutschen Schüler zwar regional unterschiedlich, gleichwohl aber passabel abschnitten, will oder kann etwa messen wollen, wie sich traditionelle Bildung im Humboldt-schen Sinne gegen das Diktat des Pragmatischen behauptet. Vorrangiges Ziel ist es hingegen festzustellen, inwiefern verschiedene Skalen die Markttauglichkeit von Schülern und Absolventen rein sachlich abbilden, um dann abzuleiten, wie sich die Probanden darin besserstellen ließen. Als qualifiziert gilt, was verzweckt in Rankings neoliberaler Betriebswirtschaftslogik paßt. Daran ist mit Blick auf grundlegende Kompetenzen manches richtig, weil viele Berufsbildungen in die Wirtschaft führen, das Vorzeichen des Ergebnisses jedoch steht bereits vor der Vermessung fest. Das bis zur bundesdeutschen Oberstufenreform noch lebendige gymnasiale Selbstverständnis sah die humanistische Bildung als eine Aneignung von Welt jenseits des Nutzens wirtschaftlicher Praxis an und brachte nach Auffassung des Quantenphysikers, Nobelpreisträgers und Direktors des renommierten Kaiser-Wilhelm- bzw. Max-Planck-Institutes Werner Heisenberg gerade deswegen Naturwissenschaftler und Techniker hervor, weil die Orientierung an alten Sprachen, literarischem Erbe und Philosophie das Verständnis des Naturwissenschaftlichen vertiefte. Josef Kraus, der Vorsitzende des Lehrerverbandes, beklagt, daß die Schulpolitik zu einer Unterabteilung der Wirtschaftspolitik degeneriere. Unter dem Diktat der Ökonomie werde insbesondere von Wirtschaftsvertretern vom Standortfaktor Bildung schwadroniert, vom Unternehmen und Dienstleister Schule, der die Lehrpläne endlich Nützlichkeitskriterien unterwerfen solle. Aber Bildung, so Kraus, verarmt, wenn nur das Verwertbare und Meßbare zählt, modular-exemplarische Inselbildung ein neues Fachidiotentum ausbildet und Download-Tempo regiert.  Während das fundierte naturwissenschaftliche und ökonomische Wissen sowie fremdsprachliches Kommunikationsvermögen durchaus meßbar sind, sollte die Schule jedoch gerade in einer fortschreitend globalisierten Welt Orientierungen bieten, die sich so nicht messen lassen. Das leisten vielmehr Literatur, Religion, Ethik, Geschichte, Philosophie und die musischen Fächer, für die sich die Tester und Analysten nicht interessieren. Schon im Jahr 2004 mixte die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, regiert vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft Köln, 105 Indikatoren, die irgend etwas mit Bildung zu tun haben, und resümierte bitter: „Das Bildungssystem in Deutschland ist, gemessen an seiner einstigen Vorrangstellung, in einer schockierend armseligen Verfassung. Angesichts des zunehmenden Globalisierungsdrucks und des demographischen Wandels versündigen wir uns an unseren Kindern, wenn wir ein marodes Bildungssystem nicht mit eiserner Entschlossenheit reformieren.“ Genau in diesem Stil veröffentlichten die Arbeitgeberverbände BDA und BDI im September dieses Jahres ein Papier mit eigenen Forderungen zur Lehrerbildung. Es ventiliert Binsenweisheiten („Dreh- und Angelpunkt der Lehrerausbildung ist die Bildung und Erziehung der Schüler“), zeichnet illusionäre Idealbilder von Lehrern und Schülern, differenziert weder nach Schulformen noch zugehörigen Lehrämtern, möchte die Lehrerbildung gar von universitärem Fachwissen abkoppeln, statt dessen einen Bachelor-Lehrer als Light-Variante etablieren und beschwört wiederum das „Unternehmen Schule“ in der verengten Vorstellung der Branche, die Bildung wäre gerettet, wenn die „Firma Schule“ nur effizient den „Kunden Schüler“ bediene. Vor allem aber in den unzähligen  OECD-Studien werden Statistiken aufgelegt, die vergleichen, was nicht vergleichbar ist — insbesondere die gern mystifizierten Angaben über Studentenanteile und Akademikerquoten. Das besondere System beruflicher Bildung in Deutschland findet keine Berücksichtigung: Was hier über die bewährte duale oder vollzeitschulische Ausbildung zum Abschluß als Krankenschwester oder Erzieherin führt, gilt in anderen Ländern als Hochschulprofil. Indem so getan wird, als sei bei einer „internationalen“ Quote von 51 Prozent Abitur gleich Abitur, wird beklagt, daß Deutschland mit 35 Prozent des Jahrgangs zu wenig Abiturienten ausbilde. Der Vorsitzende des Lehrerverbandes: „Wenn die Tochter eines finnischen Hafenarbeiters Krankenschwester wird, dann gilt das als Beleg sozialer Durchlässigkeit; wenn in Deutschland die Tochter eines VW-Arbeiters Krankenschwester wird, ist das Beleg mangelnder sozialer Durchlässigkeit des deutschen Bildungswesens. Hintergrund: In Finnland trägt der Abschluß einen Hochschulstempel, in Deutschland nicht.“ Der OECD-Band „Attracting, Developing, and Retaining Effective Teachers“ stellte den deutschen Lehrern miserable Noten aus — zu alt, eingeengt vom Beamtenstatus und eher Wissenschaftler als „Coach“. Das Expertenteam dieser Begutachtung setzte sich aus einem Spanier, einem Ungarn, einem Schweden und einem Engländer zusammen, mithin aus Leuten, die nur einheitliche Schulsysteme kennen. Sie besuchten in zehn Schultagen ganze acht von 42.000 deutschen Schulen, und zwar in nur vier von sechzehn Bundesländern. Bei einer Expertenbefragung gaben sie gern zu, daß sie die Vielfalt des deutschen Bildungswesens weder durchschauen können noch wollen. Es ist aber vor allem das mehrgliedrige Bildungssystem in Deutschland, das von den OECD-Testern als selektiv und „im internationalen Maßstab nicht mehr vermittelbar“ bemäkelt wird — was führende Sozialdemokraten, als deren Stichwortgeber OECD-Abteilungsleiter für „Indikatoren und Analysen“, Andreas Schleicher, allzu gern fungiert, sogleich von „wilhelminischem Stil“ (Peer Steinbrück) und „mittelalterlicher Ständeordnung“ (Christoph Matschie) reden läßt, während Ex-Bildungsministerin Edelgard Bulmahn gar behauptet, PISA erziele in Ländern bessere Ergebnisse, in denen die Schüler mindestens acht oder neun Jahre Gesamtschule hätten. Wie aber erklärt es sich dann, daß laut PISA-Studien gerade jene Bundesländer am besten abschneiden, die das gegliederte, differenzierte Schulsystem am deutlichsten ausprägen, während die Gesamtschule pädagogisch versagt, obwohl sie personell und finanziell besser gestellt ist? Dies nämlich bestätigt die Studie „Bildungsverläufe und psychosoziale Entwicklung im Jugendalter“ (BJU) des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin. PISA-Schlußlicht Bremen, ein Gesamtschulland, befindet sich auf der internationalen PISA-Skala zwischen Brasilien und Mexiko. Der frühere PISA-Koordinator Jürgen Baumert hält die OECD-Daten für überholt. Schon gar nicht untermauerten sie eine Forderung nach dem Gesamtschulwesen. Ebenso kommt die über dreißig Jahre laufende Langzeitstudie „LIFE — Lebensverläufe von der späteren Kindheit ins frühe Erwachsenenalter“ 2008 zu dem Nachweis, der Besuch einer Gesamtschule schaffe keineswegs bessere Aufstiegsmöglichkeiten. Dieses Ergebnis unterstreicht die ELEMENT-Studie Rainer Lehmanns, „die keine Anzeichen dafür liefert, daß der gemeinsame Unterricht in den Klassenstufen 5 und 6 soziale Disparitäten abschwächt“. Josef Kraus verweist darauf, daß jenseits aller Zweifel das deutsche Bildungssystem den Nachweis von Gerechtigkeit erbringe: Mehr als 60 Wege führen zur Hochschulreife, viele davon über die berufliche Bildung, Nicht-Gymnasiasten steckten keineswegs in Sackgassen. Wenn PISA etwa nur Fünfzehnjährige untersucht und für dieses Alter den Gymnasiastenanteil feststellt, dann negiert dieser Test die Tatsache, daß über 50 Prozent der später Studierenden gerade nicht aus den Gymnasien kommen.   Stichwort: OECD-Bildungsdirektorat Bildung ist einer von 27 Tätigkeitsbereichen der OECD. Leiterin des Directorate for Education (EDU) ist die Deutsche Barbara Ischinger. Ihr unterstellt sind fünf Abteilungen, die jeweils über ein eigenes Mandat und Budget verfügen. Für die Abteilung „Indikationen und Analysen“ zeichnet der Deutsche Andreas Schleicher verantwortlich. Im Bildungsdirektorat arbeiten 75 Ökonomen, Politikanalysten, Sozialwissenschaftler und Statistiker. Die offiziellen Sprachen sind Englisch und Französisch. Die jährlichen Ausgaben des Bildungsdirektorats belaufen sich auf circa 15 Millionen Euro. Fotos: Die Schule als Firma und der Schüler als Kunde? Nachdenklicher Blick  in die Zukunft; OECD-Direktorin Barbara Ischinger: Präsentation der neuesten OECD-Bildungsstudie

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