Der englische Historiker Arnold Toynbee (1889-1975), den man auch den englischen Spengler genannt hat, hat in seinem universalhistorischen Werk „A Study of History“ den Geschichtsprozeß des Aufstiegs und Niedergangs der Kulturen, Staaten und Reiche in der Formel von „Herausforderung und Antwort“ (challenge and response) zusammengefaßt. Nur wenn auf die Herausforderung der einen Seite die richtige Antwort der anderen erfolgt, kann deren Nieder- und Untergang verhindert und der Grundstein zu neuem Aufstieg gelegt werden. Die Geschichte des Gegensatzes zwischen Orient und Okzident bietet ein Paradigma der Toynbee-Formel. Europa wurde geboren, als die Griechen in den Schlachten bei Marathon (490 v. Chr.), Salamis und bei den Thermopylen (480 v. Chr.) der Herausforderung der persischen Großkönige die Stirn boten. Bald darauf kam es zum Gegenstoß Alexanders des Großen bis in die Tiefen Asiens und zur anschließenden Errichtung der hellenistischen Reiche. Roms Aufstieg war die Antwort auf die Herausforderung durch die Seemacht der Phönizier und Karthager, die in drei unbarmherzigen Kriegen niedergerungen wurde. Das späte Römische Reich erlag der Herausforderung der Germanen des Nordens und der Völker des Ostens. Nahezu ein Jahrtausend lang hatte sich das nachrömische Europa gegen die Vorstöße der islamischen Araber (Tour und Poitiers 732) und der Türken-Osmanen (Wien 1683) zu behaupten gewußt, auch durch die auf längere Sicht wenig glücklichen Kreuzzüge. Dann griff es selbst hegemonial in die Welt aus: die Portugiesen und Spanier nach Westen, Briten, Franzosen und Niederländer bis in den Fernen Osten. Die Geschichte der Neuzeit wurde zur „Weltgeschichte Europas“. Der „Dreißigjährige Krieg“ der beiden Weltkriege (1914-1945) und sein Ergebnis der Selbstzerstörung Europas eröffnete die Nachneuzeit und den Wiederaufstieg der Kulturen Asiens aus altem Geschlecht: China, Indien und die islamische Welt zwischen Marokko im Westen und Zentral- und Südostasien. Dabei waren es Europäer – die Briten und Franzosen nach dem Ersten Weltkrieg -, die die Pandorabüchse der heutigen Krisenregion im Nahen und Mittleren Osten öffneten, auch mit der Errichtung des Staates Israel. Es ist nicht zu verkennen, daß die islamische Welt und ihre Wortführer in ihrer historischen Langzeitperspektive die islamisch-arabisch-türkische Einwanderung nach Europa als gebührende Antwort auf die Ära der europäisch-westlichen Hegemonie verstehen. Erneut haben sich seit der Mitte des 20. Jahrhunderts die welthistorischen Strömungen gedreht, hin zu der neuen Herausforderung des Alten Kontinents, die an 732 und 1683 erinnert. Die Kölner Rede des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan im Februar dieses Jahres hat den historischen Gezeitenwandel blitzartig erhellt. Erdoğan könnte zu einer geschichtlichen Gestalt werden, die den Weg der Verwestlichung und Säkularisierung der Türkei seines Vorgängers Kemal Atatürk korrigiert, die bisherige kemalistische Führungsschicht Schritt für Schritt zurückdrängt und sich auf die islamische Tradition beruft mit dem Ziel der Emanzipation der rückständig-ländlichen Massen seines Landes. Darüber hinaus ist der türkische Ministerpräsident zum Strategen des Exports des türkischen Bevölkerungsüberschusses geworden, nachdem die türkische Bevölkerung sich in den nur vierzig Jahren zwischen 1961 und 2001 von 28 Millionen auf 68 Millionen mehr als verdoppelt und inzwischen die 70-Millionen-Marke schon erheblich überschritten hat. Erdoğan hat in Köln aus seinem Großen Plan kein Hehl gemacht, die türkische Einwanderung zu einer türkischen Parallelgesellschaft, wenn nicht zu einem türkischen Parallelstaat in Mitteleuropa auszubauen. Er und die anderen Wortführer der islamischen Einwanderung und Landnahme in Europa erkennen mit instinktiver Sicherheit die kulturelle, geistige und moralische Schwäche der Europäer und zumal der Deutschen gegenüber der außereuropäischen Zuwanderung, jenes zentrale Problem unserer Tage, das Ralph Giordano kürzlich in einer Diskussion mit Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (FAS vom 2. März) als schleichende Islamisierung auf den Punkt gebracht hat, die „von den Politikern parteiübergreifend verdrängt“ werde: „Wer heute den Moscheebau oder gar den Islam kritisiert, kriegt von links die Rassismuskeule zu schmecken; von rechts gibt es Vereinnahmungsversuche. Die Integrationspolitik ist geprägt von der Furcht, der Ausländerfeindlichkeit bezichtigt zu werden, eine Folge des Schulddrucks aus der Nazi-Zeit, der von interessierter Seite instrumentalisiert wird. Die Ausländer konnten nur deshalb zu uns kommen, weil niemand gewagt hat, eine millionenfache Zuwanderung nach den Interessen des Aufnahmelandes zu regulieren.“ Dem ist freilich hinzufügen, daß der „Schulddruck“ nicht gleichsam naturwüchsig entstand. Seit den achtziger Jahren, wenn nicht schon seit 1968, wird er von „interessierter Seite“ als deutsche Schuldneurose und deutscher Schuldkult systematisch aufgebaut und gepflegt und mit den Methoden einer säkularisierten Inquisition im Zeichen der Fremdenfeindlichkeit und des Rassismus bis heute aufrechterhalten. So hat sich gerade in der Einwanderungsfrage inzwischen eine tiefe Kluft aufgetan zwischen der „veröffentlichten Meinung“ der Kommandohöhen in Medien, Politik und Wirtschaft und der tatsächlichen Meinung des Volkes, wie sie etwa in einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag der FAZ am 17. Mai 2006 zum Ausdruck kam. Hier vertraten zwei Drittel der Befragten die Auffassung, daß ein friedliches Zusammenleben mit den Muslimen nicht möglich oder doch schwer vorstellbar ist, und 65 Prozent rechneten mit künftigen Konflikten zwischen der westlichen und der muslimischen Welt. Für 91 Prozent der Befragten war die Benachteiligung der Frauen ein wesentliches negatives Kennzeichen des Islam, 83 Prozent verbanden mit ihm Fanatismus und Radikalität, 81 Prozent das starre Festhalten an althergebrachten Glaubensgrundsätzen und 70 Prozent die Neigung zu Gewalt, Rache und Vergeltung. Auch auf seiten der heute in Deutschland lebenden Türken hat die Demoskopie erstaunliche Tatsachen zutage gefördert, die von den deutschen Integrationsenthusiasten gern verschleiert werden. So hat eine jüngste Emnid-Umfrage im Auftrag der Wochenzeitung Die Zeit gezeigt, daß sich rund 75 Prozent der hier lebenden Türken nicht von der Bundesregierung vertreten fühlen, von den Türken mit deutscher Staatsangehörigkeit, entgegen den Erwartungen, sogar 85 Prozent nicht. Nach dieser Umfrage nahmen die Fremdheitsgefühle der Zugewanderten mit steigendem Bildungsgrad erstaunlicherweise sogar zu. Auch die vom Bundesinnenminister einberufene sogenannte Islam-Konferenz hat bei ihrer jüngsten dritten Tagung im März zu einigen Überraschungen geführt. Hier hat Schäubles Vorschlag, an den deutschen Schulen einen Islamunterricht in deutscher Sprache einzuführen, bei den vorwiegend konservativen und fundamentalistischen islamischen Verbandsvertretern ein durchaus zwiespältiges Echo gefunden, insbesondere auch die Idee einer eventuellen Befragung der türkischen Eltern dazu. Nicht zuletzt sind es die unabhängigen und liberalen Mitglieder der Islam-Konferenz, insbesondere mutige Frauen wie Necla Kelek und Seyran Ateş, die keinen Zweifel daran lassen, daß der konservative Islam einen Angriff auf das Recht der freien Persönlichkeitsentwicklung und die Würde des Menschen nach westlichem Verständnis, insbesondere der Frauen, darstellt. Seyran Ateş hat in ihrem Buch „Der Multikulti-Irrtum“ (Berlin 2007) in aller Offenheit von ihren Erfahrungen als Juristin mit der unseligen Tradition der Zwangsheiraten und „Ehrenmorde“ an Frauen berichtet. Ateş deutet die Rolle der häuslichen Gewalt in vielen islamischen Migrantenfamilien als Ausdruck tiefer kultureller Bruchlinien zwischen der islamischen und der westlichen Gesellschaft, die durch oberflächliche Integrationsrhetorik nicht zu überwinden sind. Diese türkischen Frauen haben keinen Zweifel daran, daß die Scharia mit ihrer Regelung aller Lebensbereiche bis in die intimsten Zonen hinein noch in ihrer liberalsten Auslegung mit der freiheitlich-demokratischen Verfassung und Rechtsordnung etwa des deutschen Grundgesetzes unvereinbar ist, erstrebt sie doch als Endziel die vollständige Islamisierung der westlichen Gesellschaften, ungeachtet der Lippenbekenntnisse der islamischen Verbandsvertreter zum Grundgesetz. Autoren wie Ateş und früher schon Bassam Tibi sind überzeugt davon, daß ein Ausgleich mit dem Westen nur durch tiefgreifende Reformen im Islam selbst möglich wird, der auf die traditionelle strikte Einheit von Religion, Politik und Gesellschaft verzichten müßte – und dementsprechend dann auch den Koran nicht mehr als umfassendes politisches, gesellschaftliches und juristisches Regelwerk begreifen dürfte, sondern lediglich als einen religiösen Offenbarungstext. Die genannten Autorinnen insistieren mit der gleichen Deutlichkeit auf die zentralen Schwächen der westlichen – und besonders der deutschen – Positionen in dieser Auseinandersetzung, zumal auf die leichtfertige Nachgiebigkeit in der Verteidigung der eigenen Rechts- und Verfassungsordnung, wie sie sich gerade auch in der Rechtsprechung ausgebreitet hat. Hier spiegelt sich ein eigentümliches Paradox in der heutigen deutschen Debatte wider: Wir sind augefordert, die Einwanderer in unsere (noch bestehende) autochthone Mehrheitsgesellschaft zu integrieren, obwohl doch große Teile dieser Mehrheit nicht mehr von ihren Werten und Vorzügen überzeugt sind und ihre Wurzeln und Voraussetzungen aus den Augen verloren haben. Hier wirkt sich die Neigung zu Appeasement, zu Beschwichtigung und kultureller und religiöser Gleichgültigkeit fatal aus, die den Multikulti-Glauben zum vorauseilenden Gehorsam gegenüber islamischer Expansion und Landnahme werden läßt. Um so bedeutsamer ist es, wenn die Autorinnen unverdrossen darauf aufmerksam machen, daß der fundamentalistische und politisierte „Verbände-Islam“ zum einen keineswegs per se eine breite Mehrheit, sondern eher eine Minderheitsposition vertritt, und zum anderen jedenfalls mit der freiheitlich-säkularen westlichen Welt unvereinbar bleibt: Nur ein reformierter, aufgeklärter, moderner Islam vermag die Rolle eines Fremdkörpers im Westen abzustreifen. Das eigentliche Problem dieses neuen Ost-West-Kulturkonflikts besteht darin, daß der Westen so leicht bereit ist, seine ureigenen religiösen, kulturellen, nicht-materiellen und nicht-ökonomischen Wurzeln und Fundamente preiszugeben. Mit seiner „Diktatur des Relativismus“ (Papst Benedikt XVI.) wird er nur die freiheitsfeindlichen antiwestlichen Kräfte des militanten Islam stärken. Eine „Freiheit“ der bloßen individuellen Beliebigkeit im Westen kann diese Herausforderung nicht bestehen. Arnold Toynbee hat in seiner „Study of History“ nicht zuletzt auf die Rolle der Eliten in solchen Kulturkonflikten hingewiesen. In kulturellen Blütezeiten sind sie „schöpferische Minderheiten“, an denen sich die Gesamtgesellschaft orientiert, während sie im Niedergang zu nur noch herrschenden, genießenden und ausbeuterischen Minderheiten herabsinken, von denen keine Vorbildfunktion für die Gesellschaft mehr ausgeht – obwohl es gilt, die äußeren Herausforderungen als Anstöße für dringende innere und kulturelle Reformnotwendigkeiten zu verstehen. Nur wo diese Reformen angepackt werden und gelingen – die preußischen Reformen von 1807 bis 1815 sind dafür ein großartiges Beispiel -, wird auch die von außen kommende Herausforderung bewältigt. Am Anfang steht freilich die klare Einsicht in die äußere Lage und zugleich die Selbstkritik der inneren Situation, wie sie etwa die Direktorin des russischen Instituts für Demokratie und Kooperation in Paris, Natalja Narotschnitzkaja, jüngst den Europäern und ihren Funktionseliten ins Stammbuch geschrieben hat: „Heute gehen dem Westen die nicht-ökonomischen Werte aus. Diese Art Freiheit führt in die Sklaverei des Fleisches. Angesichts des Andrangs nicht-christlicher Zivilisationen ist das besorgniserregend. Daß die christliche Tradition in der Verfassung (Europas) nicht erwähnt wird, ist skandalös.“ Wieder einmal steht dieses Europa vor der Entscheidung: „Hic Rhodos, hic salta!“ – oder aber vor dem biblischen Menetekel „Gewogen und zu leicht befunden“. Prof. Dr. Klaus Hornung lehrte Politikwissenschaft an der Universität Hohenheim. Auf dem Forum der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt „Das eigene Haus wetterfest machen“ (JF 5/08). Foto: Leonidas I., König von Sparta, Verteidiger der Thermopylen gegen die Perser: Nur wenn auf die Herausforderung der einen Seite die richtige Antwort der anderen erfolgt, kann deren Niedergang verhindert und der Grundstein zu neuem Aufstieg gelegt werden