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Marc Jongen, ESN Fraktion

Das Land blutet aus

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Alle Güter und Dienstleistungen, die von der gesamten Bevölkerung eines Landes verbraucht werden, müssen von der Erwerbsgeneration erwirtschaftet werden. Ausgehend von dieser Überlegung, ist es eine einfache mathematische Optimierungsaufgabe zu berechnen, bei welcher Geburtenrate die Belastung der Erwerbsgeneration durch die junge und die alte Generation zusammen minimal wird, so daß sich Wohlstand optimal entwickeln kann. Bei einer bestandserhaltenden Geburtenrate von im Durchschnitt 2,1 Kinder je Frau ist diese Bedingung der minimalen Belastung erfüllt; im Bereich zwischen 1,9 und 2,3 Kinder je Frau ist sie zumindest näherungsweise erfüllt. Es kommt sogar noch sehr viel stärker darauf an, eine Geburtenrate nahe am Ersetzungsniveau zu haben, als diese Überlegung nahelegt. Der Grund ist, daß durch das Wachsen der Bevölkerung (mehr als 2,1 Kinder je Frau) ebenso wie durch das Schrumpfen der Bevölkerung (weniger als 2,1 Kinder je Frau) zusätzlich wirkungsvolle Rückkopplungsmechanismen auftreten, die in beiden Fällen den Wohlstand beeinträchtigen. Im Falle einer anhaltend hohen Geburtenrate von beispielsweise 2,8 Kinder je Frau wächst die Bevölkerung um jährlich ein Prozent. Deshalb muß, um das Wohlstandsniveau zu halten, die Infrastruktur und der Kapitalstock der Produktionseinrichtungen jährlich um ein Prozent ausgeweitet werden, was zusätzlich circa fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) verschlingt. Dadurch bleiben nicht genügend Mittel übrig, um den Kapitaleinsatz pro Arbeitplatz zu erhöhen und das Ausbildungsniveau zu verbessern. Die Folge ist: Produktivität und Wohlstand wachsen nicht, das Land verbleibt in Armut. Deutschland hatte von 1920 bis 1970, über fast zwei Generationen hinweg, eine Geburtenrate nahe zwei Kinder je Frau. In diesem Zeitraum und den nachfolgenden 25 Jahren erlebte unser Land eine phantastische Zunahme des Wohlstandes, wenn man davon absieht, daß er zwischendurch durch Krieg vernichtet wurde. Japan hatte von 1955 bis 1980 eine ähnlich ideale Fertilität. In diesem Zeitraum und den nachfolgenden 20 Jahren stieg Japan zum reichsten Land der Erde auf. In der Geschichte moderner Volkswirtschaften gibt es kein Beispiel dafür, daß ein Land zu großem Wohlstand aufgestiegen wäre, ohne diese offensichtlich notwendige Bedingung, eine Geburtenrate nahe zwei Kinder je Frau zu haben, zu erfüllen. Alle Länder, deren Geburtenrate, von hohen Kinderzahlen kommend, sich dem Wert von zwei Kindern je Frau nähert, erleben ein rasantes Wirtschaftswachstum und wachsenden Wohlstand. Beispiele hierfür sind China, Brasilien, Mexiko und die Türkei. Die Geburtenrate ist natürlich nicht der einzige Parameter, der den Wohlstand eines Landes bestimmt. Jedoch nur bei einer Geburtenrate nahe dem Ersetzungsniveau ist die Gesamtbelastung der Erwerbsgeneration niedrig genug, um ausreichend Mittel in eine Verbesserung von Bildung und eine beständige Modernisierung von Infrastruktur und Produktionseinrichtungen zu investieren. Nur dann kann der Wohlstand steigen. Afrika wird die Armut nicht besiegen, solange seine Geburtenrate oberhalb von fünf Kindern je Frau verbleibt, wie das heute der Fall ist. Der einzige Weg, den Menschen in Afrika zu helfen, besteht darin, Programme zur Geburtenkontrolle zu finanzieren. Sobald die Geburtenrate unter 2,5 Kinder je Frau fällt, wird der Wohlstand von selbst zu wachsen beginnen. Der Geburtenrückgang, in vielen Ländern zu beobachten, trat in der Bundesrepublik als erstes auf. Deutschland ist deshalb das Land, das 2007 mit 8,3 Geburten pro 1.000 Einwohner die niedrigste allgemeine Geburtenziffer aller 206 Länder der Erde hatte. Welche Mechanismen werden wirksam, nachdem die Geburtenrate deutlich unterhalb des Bestandserhaltungsniveaus gesunken ist? Von 1965 bis 1973 sank die Geburtenrate in Westdeutschland um 44 Prozent auf 1,4 Kinder je Frau und schwankt seither um diesen Wert. Die DDR hatte bis 1973 dieselbe demographische Entwicklung. Sie hat jedoch nach 1975 ihre Familienförderung verstärkt und einen Wiederanstieg der Geburtenrate auf über 1,8 Kinder je Frau erreicht, der bis kurz vor der Wiedervereinigung anhielt. Mit der Wiedervereinigung brach die Geburtenrate im Osten auf 0,8 Kinder je Frau ein (1992 bis 1994); sie stieg seither langsam wieder an und hat inzwischen 1,3 Kinder je Frau erreicht. Seit 35 Jahren werden in Deutschland demnach nur noch zwei Drittel der Kinder geboren, die für eine zahlenmäßige Ersetzung der Elterngeneration benötigt würden. Seit 1995 beschleunigt sich der Rückgang der Geburtenzahlen, weil nun die nach 1970 geborenen kleinen Jahrgangsstärken in das Reproduktionsalter kommen und die Zahl der potentiellen Eltern damit um ein Drittel abnimmt. Ein Rückgang der Fertilität wird in vielen Ländern zeitversetzt beobachtet, so in Japan, Italien, Spanien und in allen ehemals kommunistischen Ländern. Allerdings trat dieser Geburtenrückgang in Deutschland als erstes auf. Deutschland ist deshalb das Land, das 2007 mit 8,3 Geburten pro 1.000 Einwohner die niedrigste allgemeine Geburtenziffer aller 206 Länder der Erde hatte. Es sei jedoch angemerkt, daß es auch hochentwickelte Länder gibt, deren Geburtenrate nahe zwei Kinder je Frau verblieben ist. Dazu gehören insbesondere die USA, Frankreich und Großbritannien, aber auch Irland und die skandinavischen Länder. Die Volkswirtschaftler unseres Landes haben 30 Jahre lang fast unisono die Meinung vertreten, das Geburtendefizit habe keine negativen Auswirkungen auf den individuellen Wohlstand, nach der simplen Überlegung: Wenn jeder ein hohes Einkommen hat, dann geht es jedem gut, ganz unabhängig davon, wie viele leben. Tatsächlich steigt nach einem Rückgang der Geburtenrate auf nur noch zwei Drittel des Ersetzungsniveaus der Wohlstand zunächst sogar schneller, weil die nicht geborenen Kinder keine privaten und öffentlichen Kosten verursachen. Erst nach 20 Jahren macht sich das Fehlen junger Erwerbstätiger in fehlender Wirtschaftsdynamik und einem 40 Jahre andauernden Anstieg des Altenquotienten (Zahl der Menschen über 65 Jahre bezogen auf die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter) nachteilig bemerkbar. Seit 1995 sinkt in Deutschland aufgrund des anhaltenden Geburtendefizits das Erwerbspersonenpotential im Mittel um ein Prozent pro Jahr, und der Altenquotient steigt um 2,2 Prozent pro Jahr. Bis 2040 wird sich der Altenquotient verdoppeln. In der Öffentlichkeit wird hierzu fast ausschließlich die erfreuliche, seit 150 Jahren anhaltende Zunahme der Lebenserwartung diskutiert. Die Zunahme der Lebenserwartung ist in der Tat beachtlich und mit drei Monaten pro Jahr größer als den meisten bewußt ist. Dennoch ist sie nur für 30 Prozent der Zunahme des Altenquotienten verantwortlich, 70 Prozent werden durch das Geburtendefizit verursacht. Beide Anteile wirken sich zudem völlig unterschiedlich aus. Die Zunahme der Lebenserwartung ist naturwissenschaftlich betrachtet eine Verlangsamung der biologischen Alterung. Sie kann deshalb in ihrer Wirkung auf den Altenquotienten durch eine dynamische Anhebung des Renteneintrittsalters ausgeglichen werden. Für den zusätzlichen Anstieg des Altenquotienten um den Faktor 1,7 aufgrund des Geburtendefizits gilt dies nicht. Die bereits eingetretene Zusatzbelastung der erwerbstätigen Generation durch Alte, die kein oder nur ein Kind aufgezogen haben, hat dazu geführt, daß das Rentenniveau der Eltern von zwei oder mehr Kindern ungerechtfertigterweise bereits um 30 Prozent gesenkt wurde und zukünftig noch weiter gesenkt werden soll. Gleichzeitig stiegen die Sozialkosten für die Alten in der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung (insgesamt 360 Milliarden Euro pro Jahr, die durch Sozialbeiträge und Steuern finanziert werden) bereits dramatisch an, so daß heute sozialversicherungspflichtig Beschäftigte 37 Prozent ihres Gesamt-Brutto-Einkommens (Brutto-Einkommen einschließlich Arbeitgeberbeiträge) hierfür bezahlen müssen. Müßten die Erwerbstätigen nur für ihre alten Eltern sorgen und nicht auch noch für kinderlose Alte, so wären hierfür nur 25 Prozent des Gesamt-Bruttoeinkommens nötig. Der Kindermangel kostet den Erwerbstätigen somit zwölf Prozent seines Gesamt-Brutto-Einkommens oder ein Fünftel seines Netto-Einkommens. Die Staatsquote aus Lohnsteuer, Sozialbeiträgen und Konsumsteuern beträgt heute für den durchschnittlichen Arbeitnehmer bereits 55 Prozent. Bei einem Einkommen nahe der Beitragsbemessungsgrenze beträgt die Staatsquote sogar 64 Prozent. Im Vergleich aller 30 OECD-Länder hat Deutschland die zweithöchste Staatsquote für durchschnittliche Arbeitnehmer: 25 Prozent über dem Durchschnitt. Das eigentlich erschreckende ist jedoch, daß trotz der extrem hohen Staatsquote für Arbeitnehmer die Netto-Investitionsquote des Staates extrem niedrig ist. Vor 1980 betrug sie immerhin noch zwei Prozent des BIP, von 1985 bis 1995 etwa 0,6 Prozent BIP, nach 1997 war sie null, und seit 2003 ist sie sogar negativ (-0,3 Prozent BIP). Das bedeutet: Wir investieren nicht einmal genug, um den gegenwärtigen Stand der Infrastruktur halten zu können. Dahinter verbergen sich marode und unzureichende Straßen und Brücken, eine desolate Ausstattung von Polizei und Militär sowie ein unterfinanziertes Bildungssystem von der Grundschule bis zur Universität. Und selbst im Aufschwung 2007 mit einem Ausgabenzuwachs des Bundeshaushaltes von 4,5 Prozent und einem nochmaligen Ausgabenzuwachs von 4,7 Prozent für 2008 wurden die Investitionen nicht erhöht. Der Grund ist natürlich, daß nach den heutigen Gesetzen immer mehr Geld für kinderlose und Ein-Kind-Rentner aufgewandt werden muß, obwohl diese die Kinder, die mit ihrer Wertschöpfung ihre Alterskosten erwirtschaften sollten, gar nicht aufgezogen haben. Deshalb dominiert der Konsum in der Gegenwart, und die Investitionen in die Zukunft verlieren immer mehr an Bedeutung. Wer keine Kinder hat, der möchte in der Gegenwart gut leben, die fernere Zukunft ist ihm in der Regel egal. Es mag viele überraschen, aber auch die Netto-Investitionsquote der Unternehmen in Deutschland ist mit drei Prozent BIP die niedrigste aller 30 OECD-Länder, obwohl doch die Unternehmensgewinne seit 2000 um 49 Prozent gestiegen sind. Die Ursache hierfür ist: Die Unternehmen ziehen es vor, ihre Gewinne im Ausland zu investieren, da ein Land mit schrumpfender Erwerbsbevölkerung keine Aussichten auf zukünftig steigende Umsätze und Gewinne bieten kann. Aus Deutschland flossen laut Bundesbank im Jahr 2007 netto 221 Milliarden Euro oder 9,5 Prozent BIP ab! Diese Kapitalflucht ist seit dem Jahr 2000 rapide angewachsen und wird im laufenden Jahr auf geschätzte 250 Milliarden Euro anschwellen. Zukünftiger Wohlstand wird geschaffen durch heutige Investitionen in Human- und in Sachkapital. Die Investitionen in Humankapital, Aufziehen und Ausbildung von Kindern zu leistungsfähigen Menschen, wird heute zu
einem Drittel nicht mehr geleistet. Um diesen Kapitalabfluß zu finanzieren, muß ein entsprechender Überschuß der Leistungsbilanz durch Exportüberschüsse erwirtschaftet werden. Dies erreicht man durch Lohnzurückhaltung oder gar Lohnabsenkung. In Deutschland sind die Netto-Löhne seit dem Jahr 2000 im Durchschnitt langsamer gestiegen als die Inflation, die Menschen mußten im Mittel seit 2000 rund fünf Prozent Kaufkraftverlust hinnehmen. Das abfließende Kapital fehlt für ausreichende Investitionen in neue Arbeitsplätze und in die Produktivitätssteigerung der vorhandenen. Die Folge sind Arbeitslosigkeit und stagnierende Löhne. Länder mit guter demographischer Entwicklung wie Frankreich und Großbritannien haben im gleichen Zeitraum ein höheres Wirtschaftswachstum erzielt und einen Kaufkraftzuwachs ihrer Bürger von etwa sieben Prozent erreicht, ohne einen Kapitalabfluß zu erleiden und ohne riesige Exportüberschüsse erzielen zu müssen. Aber in Frankreich und Großbritannien schrumpft die Erwerbsbevölkerung eben nicht, ihre gesamtstaatlichen Netto-Investitionsquoten betragen nicht drei Prozent BIP wie in Deutschland, sondern acht Prozent BIP. Das Pendant zum Abfluß von Kapital auf der Suche nach höherer Rendite ist die Abwanderung von Arbeitskräften auf der Suche nach höherem Einkommen. Parallel zum Anwachsen des Netto-Kapitalabflusses wird seit 2001 eine zunehmende Netto-Abwanderung von Deutschen registriert. Im Jahr 2007 haben netto 59.000 Deutsche das Land verlassen, was etwa 7,4 Prozent eines Jahrgangs entspricht. Junge Ärzte, Naturwissenschaftler und Ingenieure können heute in Großbritannien oder den USA ein mindestens 50 Prozent höheres Netto-Einkommen erzielen. Mit einer Massenzuwanderung hochqualifizierter Ausländer könnte man die ökonomischen Folgen des Geburtendefizits mildern. Allerdings kommen hochqualifizierte Arbeitsmigranten, die überall willkommen sind, nicht in großer Zahl zu uns, sondern gehen lieber in die USA, nach Kanada oder Australien. Die in den letzten dreißig Jahren zugelassene Massenzuwanderung von geringqualifizierten Menschen hat die Probleme nicht gelöst, sondern verschärft. So hat sie beispielsweise ein dreifaches Überangebot an geringqualifizierten Arbeitskräften erzeugt, was zu einem Zusammenbruch des Lohnniveaus in diesem Bereich geführt hat. Man kann noch grundsätzlicher argumentieren: Der zukünftige Wohlstand wird geschaffen durch die heutigen Investitionen in Humankapital und in Sachkapital. Diese Investitionen in Humankapital, das Aufziehen und die Ausbildung von Kindern zu wirtschaftlich leistungsfähigen Menschen, werden heute zu einem Drittel nicht mehr geleistet. Gleichzeitig fließt aus demographischen Gründen Realkapital in großem Umfang ab, so daß auch die Investitionen in Sachkapital deutlich sinken. Ein Land, das sowohl in Humankapital als auch in Sachkapital zu wenig investiert, wird zwangsläufig im Wohlstand zurückfallen. Deutschland und Japan sind die ersten Länder, die nun erfahren müssen, daß 25 Jahre nach einem Rückgang der Geburtenrate auf weit unterhalb von zwei Kinder je Frau der Wohlstand, an dessen beständige Zunahme wir uns so leicht und gerne gewöhnt hatten, in Teilen wieder verlorengeht.   Prof. Dr. Hermann Adrian, 60, Professur für Festkörperphysik an der TU Darmstadt (1988 bis 1994) und an der Universität Mainz (seit 1994); seit 2000 Forschungen zur Bevölkerungsentwicklung in Deutschland und Europa sowie Studien zu den Auswirkungen eines anhaltenden Geburtendefizits auf Wirtschaft, Staat und Gesellschaft.

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