Die heiße Flamme des Geistes nährt heute ein gewaltiger Schmerz: Die ungeborenen Enkel“, so endet das Gedicht „Grodeck“, in dem Georg Trakl den Schrecken des Ersten Weltkriegs beschwört. Ein halbes Jahrhundert später und nach dem höllischen Grauen des Völkermords an den Juden hörten wir — in einer großen Stunde des deutschen Bundestags — die Klage aber die „Millionen Kinder meines Volks, deren Namen wir nicht kennen … Wie viele Bücher, die niemals geschrieben wurden, sind mit ihnen gestorben? Wie viele Symphonien, die niemals komponiert wurden, sind in ihren Kehlen erstickt? Wie viele wissenschaftliche Entdeckungen konnten in ihren Köpfen nicht heranreifen? … Der Nationalsozialismus hat sie nicht nur ihren Familien und den Angehörigen ihres Volkes entrissen, sondern der ganzen Menschheit.“ Ezer Weizmann, der Präsident des Staates Israel, sprach so 1996 vor dem deutschen Parlament von den Kindern seines Volkes. Wenn nun am 22. September dieses Jahres fast tausend weiße Holzkreuze vom Alexanderplatz in Berlin zur Hedwigskathedrale getragen wurden, so sollten sie an die Tausenden von Kindern unseres Volkes erinnern, denen Tag für Tag das Leben geraubt wird, ehe sie das Licht der Welt erblicken konnten. Die Vermeidung einer neunmonatigen Belastung — vor der immer möglichen Freigabe zur Adoption — genügt als Grund, um eine ganze menschliche Existenz zu vernichten und einen einmaligen, bereits begonnenen Lebensweg für immer auszulöschen. Die mit der Berliner Prozession Gehenden werden — wie Dissidenten in semitotalitären Systemen immer — als etwas abseitige Sonderlinge belächelt, als „Fundamentalisten“ angegiftet oder als marginale Gruppe ignoriert. Das Thema hat sich für die Medien erschöpft, es ist zum alten Hut geworden. Aber die Wahrheit ist ja eine ganz andere, jedes einzelne dieser Kinder — „mein Kind“, sagt fast jede schwangere Frau — ist ein neues, unvergleichbares Kind, mit Bezug auf welches sich die Frage „Sein oder Nichtsein“ mit einer Wucht stellt, die durch keine Erschöpfung des Medieninteresses gemindert wird. Jede Frau in Bedrängnis sollte mit der geballten Solidarität der Gesellschaft rechnen dürfen, wenn sie sich für das Leben entscheidet. Oder besser, wenn sie sich in dem Bewußtsein, daß es hier gar nichts mehr zu entscheiden gibt, des Menschenkindes annimmt, das nun einmal auf Gedeih und Verderb auf ihren Beistand angewiesen ist, um seinen Lebensweg gehen zu können. Unlängst sprach ein Arzt vor interessiertem Publikum über das Thema Abtreibung und die Frage möglicher Gründe. Er schilderte die Situation einer schwindsüchtigen Mutter von drei Kindern mit ihrem Mann, einem trunksüchtigen Künstler, der ständig in finanziellen Nöten war, und die nun ein weiteres Kind erwartet. Das nahezu einhellige Votum des Publikums: ein eindeutiger Fall sozialer Indikation. Bemerkung des Arztes: „Sie haben soeben Beethoven getötet.“ Nicht jedes der tausend Holzkreuze erinnert an einen künftigen Beethoven. Aber jedes Kind ist einmalig wie Beethoven. Prof. Dr. Robert Spaemann, Jahrgang 1927, gilt als einer der intellektuell profiliertesten Kritiker der Abtreibung. Der Philosoph veröffentlichte zahlreiche Bücher und Aufsätze unter anderem in der FAZ, Welt, Zeit oder Cicero.