Im politischen Leben aller Völker und aller Zeiten spielen Legenden eine maßgebende Rolle. Sie erklären einem ganzen Volk, manchmal auch nur einem Teil, Widersprüche, die zwischen Verheißung und Erfüllung, zwischen Erwartung und Erfahrung immer wieder auftreten, insbesondere nach radikalen politischen Umbrüchen. Man denke nur an die Bedeutung der Dolchstoßlegende für die politische Entwicklung der Weimarer Republik. Sie gab Millionen Soldaten – und damit einem repräsentativen Teil des Volkes – eine als überzeugend empfundene Antwort auf die Frage nach den Ursachen der militärischen Niederlage und aller daraus resultierenden Folgen (Abdankung des Kaisers, Revolution, „Versailles“, Inflation usw.). Nach dieser Legende war das deutsche Heer nicht von den Feinden an der Front besiegt worden, sondern von den „Feinden“ des deutschen Volkes im Umfeld von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg im Rücken der Front erdolcht worden. Die rasche Verbreitung dieser wie auch anderer Legenden erklärt sich aus der Tatsache, daß sie – im Unterschied zur Lüge – einen „Wahrheitskern“ besitzen, der das subjektive Empfinden scheinbar objektiv bestätigt. Selbstverständlich hat es bis heute nicht an Versuchen der Widerlegung dieser Legende unter Berufung auf wissenschaftlich seriöse Darstellungen der tatsächlichen Gründe des militärischen Zusammenbruchs gefehlt. Derartige Versuche verkennen jedoch die eigentliche Intention von Legendenbildungen. Sie zielen gerade nicht auf Klärung, sondern auf Verklärung geschichtlicher Ereignisse und Persönlichkeiten zur Bestätigung der eigenen Überzeugungen – bei gleichzeitiger Schuldzuweisung an die schon immer bekämpften äußeren und inneren Feinde. Sozialpsychologen sprechen von der Befriedigung eines „ethischen Entlastungsbedürfnisses“. Wissenschaftlich-rationale Argumente, mögen sie auch noch so stichhaltig sein, bewirken deshalb in der Regel keine dauerhafte Widerlegung von Legenden, so wie auch ein Suchtkranker in der Regel durch noch so überzeugende medizinische Argumente nicht zur Vernunft kommt. Die Folge ist eine aus rationaler Kontrolle geratene politische Auseinandersetzung und daraus folgend ein um sich greifender Irrationalismus. Die Folgen sind bekannt. Man sollte meinen, daß aus den verhängnisvollen Erfahrungen mit der Dolchstoßlegende und anderen Legenden die notwendigen Konsequenzen in Politik und Wissenschaft, in Publizistik, Schulen und dem sonstigen Kulturbetrieb gezogen worden wären und inzwischen beachtet würden. Davon kann aber keine Rede sein, jedenfalls nicht bei vollem Bewußtsein. Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit in den kommunistischen Staaten weltweit können den westlichen Parteigängern und den intellektuellen Sympathisanten der Kommunisten zum Beispiel nicht mehr anders erklärt werden als durch die Legende von der „Entartung“ des Sozialismus durch Stalin. Für viele enttäuschte Sozialisten verkörpert hingegen Rosa Luxemburg die Traditionen und Grundsätze eines „wahren“ Sozialismus, für den sie aufopferungsvoll gekämpft hat und für den sie eine Art Märtyrertod gestorben ist. Was wir seit 1917 in Rußland als „Sozialismus“ erlebt haben, war jedoch keine „Entartung“, sondern die folgerichtige Entwicklung der kommunistischen Ideologie. Rosa Luxemburg hatte daran maßgebenden Anteil, insbesondere durch ihre emphatische Würdigung Lenins, trotz einiger Kritik. Immerhin bietet ihre Biographie einige gute Ansätze – die bereits erwähnten „Wahrheitskerne“ -, die sich vorzüglich für die Bildung der Legende vom „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ eignen. Sie umrankt Rosa Luxemburgs Lebensweg und verdeckt absichtsvoll zentrale Aussagen und Entscheidungen ihres politischen Wirkens. Legendenbildungen zielen gerade nicht auf Klärung, sondern auf Verklärung geschichtlicher Ereignisse und Persönlichkeiten zur Bestätigung der eigenen Überzeugungen – bei gleichzeitiger Schuldzuweisung an die schon immer bekämpften Feinde. Dazu gehört ihr in der Tat leidenschaftlicher Kampf gegen Krieg und Imperialismus, gegen soziale Ungerechtigkeit und für die Emanzipation des Menschen. Sie hat ihn aber, so die Legende, nicht aus politischem Machtstreben oder ideologischer Motivation geführt, sondern aus einem „tiefen Mitgefühl mit der leidenden Kreatur“. „Engagement für die unterdrückten Klassen und Sorge für Tiere waren für sie dabei nie Gegensätze, sondern einander ergänzende und zueinander in bezug stehende Haltungen“ – so die Auskunft eines repräsentativen „Lexikons linker Leitfiguren“. Zur Begründung dieses an sich sympathischen Charakterzuges werden zahlreiche kleinere Begebenheiten herangezogen, die Rosa Luxemburg in ihren „Briefen aus dem Gefängnis“ (1916 bis 1918 in Breslau) mitgeteilt hat. Diese Briefe vermitteln die Anmutung, daß die als „blutige Rosa“ diffamierte Frau buchstäblich „keiner Fliege etwas zuleide tun konnte“. Da ist die Rede von einem Marienkäfer, dem sie aus Watte ein wärmendes Nest gebaut hat; von einem Mistkäfer, der hilflos auf dem Rücken lag und von Ameisen angefressen wurde, von Amseln und Nachtigallen, die an ihrem Zellenfenster herumspielten, aber auch von grundsätzlichen Überlegungen zum Rückgang der Singvögel aufgrund der Vernichtung ihrer Umwelt durch die kapitalistischen Wirtschaft. „Nicht um den Gesang für die Menschen ist es mir, sondern das Bild des stillen, unaufhaltsamen Untergangs dieser wehrlosen kleinen Geschöpfe schmerzt mich so, daß ich weinen mußte“ (Briefe 14). Gelegentlich hat sie den Eindruck, daß sie kein richtiger Mensch sei, sondern auch irgendein Vogel, weil sie sich unter ihnen mehr in der Heimat fühlt als auf einem Parteitag. „Mein innerstes Ich gehört mehr meinen Kohlmeisen als den ‚Genossen'“ (Briefe 15). Allerdings sollte diese Äußerung nicht als „Verrat am Sozialismus“ interpretiert werden. „Ich werde trotzdem hoffentlich auf dem Posten sterben: in einer Straßenschlacht oder im Zuchthaus“ (ebd.). Der innigen Beziehung zur Natur entspricht eine nicht minder innige Beziehung zur Kultur, insbesondere zu klassischer Musik und Literatur. Auf diese Weise wird das Porträt einer humanistisch gebildeten, kulturell engagierten Persönlichkeit abgerundet. Wenn in der einschlägigen glorifizierenden Literatur und Publizistik Rosa Luxemburg als „gütige, feinsinnige und tiefempfindende Frau“ mit einem von „unerschöpflicher Menschenliebe durchpulsten Herzen“ dargestellt wird, so werden damit lediglich die nötigen emotionalen Voraussetzungen für die Verbreitung dieser Legende geschaffen. Ein überzeugender Beweis für die Verkörperung des „wahren Sozialismus“ liegt damit jedoch nicht vor; allenfalls eine erneute Bestätigung für die hinreichend belegte Tatsache, daß ein derartiges Persönlichkeitsprofil keinen Schutz vor politischer Verblendung, ideologischer Verführung oder intellektuellem Realitätsverlust bietet. Entsprechendes gilt für die Legende von Rosa Luxemburgs Kritik an Lenin. Auch sie hat einen beachtlichen „Wahrheitskern“. Er liegt in einem Aufsatz „Zur russischen Revolution“, den sie im Jahr 1917/18 noch im Gefängnis geschrieben hat, aber nach ihrer Entlassung in den Wirren der Novemberrevolution nicht veröffentlichen konnte. Er erschien erst postum 1922. Anlaß für die Kritik an Lenin waren verschiedene Maßnahmen im Laufe der russischen Revolution, so zur Auflösung des Parlaments, zur Einschränkung der Presse-, Versammlungs- und Vereinsfreiheit, zur Agrar- und Nationalitätenpolitik, zu Organisationsfragen der Partei und zur Konkretisierung des Begriffes „Diktatur des Proletariats“. In diesem Zusammenhang hat Rosa Luxemburg den inzwischen zu einem Schlagwort verkommenen Satz geprägt: „Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für die Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit der ‚Andersdenkenden'“. Der diese Aussage begründende Folgesatz wird fast immer (bewußt?) weggelassen, weil er Zweifel an der politischen Zweckinterpretation aufkommen läßt. Er lautet: „Nicht wegen des Fanatismus der ‚Gerechtigkeit‘, sondern weil all das Belebende, Heilsame, Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die ‚Freiheit‘ zum Privilegium wird.“ (Werke 4,359) Zum Verständnis dieses Satzes sind einige Feststellungen erforderlich. Zunächst: Dieser Satz ist als Randnotiz ohne Einordnungshinweis niedergeschrieben worden, also nicht an einer hervorgehobenen Stelle. Der Aussagewert wird dadurch erheblich beschränkt. Dies um so mehr, als es aus dem umfangreichen Gesamtwerk Rosa Luxemburgs (fünf Bände) der einzige Beleg für diese Aussage ist. Es dürfte nur ganz wenige, vermeintlich programmatische Schlüsselaussagen von Politikern geben, die aus einer derart dürftigen Quellenbasis – einem noch dazu aus dem Zusammenhang gerissenen Satz – abgeleitet werden. Sodann: Diese Aussage bezieht sich eindeutig, wie auch eine nur oberflächliche Lektüre des Kontextes bestätigt, auf die politische Linke, die sowohl in Rußland als auch in Deutschland im Laufe der Revolution in mehrere Parteien gespalten war (Bolschewiki, Menschewiki, Sozialrevolutionäre/Maximalisten in Rußland; SPD, USPD, Spartakusbund/KPD). Zu den „Andersdenkenden“ gehören selbstverständlich nicht die hinreichend klar definierten „Feinde“ des Sozialismus: Kapitalisten und Großagrarier, bürgerliche Demokraten und Intellektuelle, Beamte und Adlige, Christen und Geistliche, auf Deutschland bezogen: nicht einmal führende Sozialdemokraten und Gewerkschafter. Für sie hatte Rosa Luxemburg seit der Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten 1914 nur noch abgrundtiefe Verachtung, fanatischen Haß, bitteren Hohn und Spott übrig. Es waren für sie die „infamsten und größten Halunken, die in der Welt gelebt haben“ (Werke 4,508) und die deshalb ins Zuchthaus gehörten, wie sie unter dem stürmischen Beifall des Gründungsparteitages der KPD im Dezember 1918 erklärte. Mit ihnen gab es keine Verständigung, keine Kompromisse, keine Zusammenarbeit, sondern nur einen „Kampf auf Leben und Tod“. „Die Liquidierung des ‚Haufens organisierter Verwesung‘, der sich heute Sozialdemokratie nennt, ist nicht als Privatangelegenheit in den Entschluß einzelner oder vereinzelter Gruppen gegeben. Sie wird sich als unvermeidlicher Nachtrag dem Weltkrieg anschließen und muß als große öffentliche Machtfrage unter Aufbietung aller Kräfte ausgefochten werden“ (Werke 4,236). Luxemburgs berühmte Aussage von der „Freiheit der Andersdenkenden“ gilt allein der politischen Linken, keineswegs aber den „Feinden“ des Sozialismus wie Kapitalisten und Großagrariern, bürgerlichen Demokraten und Intellektuellen, Beamten und Adligen. In diesem Sinne des „unvermeidlichen Nachtrags“ schloß Rosa Luxemburg einen programmatischen Aufruf „Was will der Spartakusbund?“ in der Roten Fahne vom 14. Dezember 1918: „Auf Proletarier! Zum Kampf! Es gilt eine Welt zu erobern und gegen eine Welt anzukämpfen. In diesem letzten Klassenkampf der Weltgeschichte um die höchsten Ziele der Menschheit gilt dem Feinde das Wort: Daumen aufs Auge und Knie auf die Brust“ (Werke 4,451). Diese unmißverständlichen Aussagen zum Umgang mit „Andersdenkenden“ in der politischen Auseinandersetzung lassen keinen Raum für verharmlosende Interpretationen, zum Beispiel der, daß sich Rosa Luxemburg einer „metaphorischen“ Ausdrucksweise bediene, die man nicht wörtlich verstehen dürfe. In Rußland hat man sie jedenfalls sehr wörtlich verstanden. So heißt es in einer Anordnung Lenins vom August 1918, daß man „schonungslosen Massenterror gegen die Kulaken, Popen und Weißgardisten anwenden und verdächtige Personen in Konzentrationslager außerhalb der Stadt einsperren“ müsse (Werke 36,479). Hunderttausende von Menschen wurden bereits im ersten Jahr nach der Revolution Opfer dieses Massenterrors, viele von ihnen verloren ihr Leben. Rosa Luxemburg wußte von diesem Massenterror und hat sich mit Rücksicht auf die öffentliche Meinung in Deutschland in gewisser Weise davon distanziert, andererseits hat sie ihn aber auch mit dem Hinweis auf die Gesetze einer Revolution akzeptiert. „Alles, was in Rußland vorgeht, ist begreiflich und eine unvermeidlichen Kette von Ursachen und Wirkung, deren Ausgangspunkte und Schlußsteine das Versagen des deutschen Proletariats und die Okkupation Rußlands durch den deutschen Imperialismus. Es hieße von Lenin und Genossen Übermenschliches verlangen, wollte man ihnen auch noch zumuten, unter solchen Umständen die schönste Demokratie, die vorbildlichste ‚Diktatur des Proletariats‘ und eine blühende Wirtschaft hervorzuzaubern. Wir alle stehen unter dem Gesetz der Geschichte, und die sozialistische Politik läßt sich eben nur international durchführen. Die Bolschewiki haben gezeigt, daß sie alles können, was eine echte revolutionäre Partei in den Grenzen der historischen Möglichkeiten zu leisten imstande ist. Worauf es ankommt, ist, in der Politik der Bolschewiki das Wesentliche vom Unwesentlichen, den Kern von dem Zufälligen zu unterscheiden.“ (4,364 f.) In dieser großen welthistorischen Perspektive „verschwinden wesenlos alle besonderen Fehler und Irrtümer des Bolschewismus“ (4,371). Es gehört zu den Eigentümlichkeiten sozialistischer Geschichtsklitterungen, die tatsächlichen oder auch vermeintlichen Fehler und Irrtümer Lenins nicht verschwinden zu lassen. Sie sind so ziemlich die letzte Möglichkeit, das Desaster des Sozialismus im Laufe des vorigen Jahrhunderts einigermaßen zu erklären und neue Hoffnungen zu wecken. Keine kräftigen, aber für viele Enttäuschte ermutigende Impulse gehen in dieser Hinsicht von dem jährlichen sozialistischen „Heldengedenktag“ am 15. Januar in Berlin-Friedrichsfelde aus, an dem seit Jahren Zehntausende ewiggestrige Genossen den alten Schwur erneuern: „Der Rosa Luxemburg – der haben wir’s geschworen“. Was haben sie ihr geschworen? Und wann? Eine sozialistische Gesellschaft nun doch auf friedlichem Wege anzustreben, gemeinsam mit der von Rosa Luxemburg so radikal verachteten und bekämpften Sozialdemokratie? Rosa Luxemburg hat sich in ihren politischen Analysen und in ihren konkreten politischen Entscheidungen schwer getäuscht, wie die Geschichte bewiesen hat. Aber sie hat ihre Genossen und ihre Feinde nicht getäuscht und klare Orientierungen ermöglicht. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß viele Sozialisten durch ihr heutiges Verhalten Rosa Luxemburgs Verdikte über die Sozialdemokratie noch nachträglich bestätigen wollen. Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaften an der Hochschule der Künste Berlin. Er ist langjähriger Kolumnist der JUNGEN FREIHEIT. Foto: Stele zum Gedenken an die 1919 ermordete Rosa Luxemburg am Landwehrkanal in Berlin, Porträt: Alljährlich zum 15. Januar leben die Legenden um die Sozialistin neu auf
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