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Zurück in die Türkei

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Cool Istanbul", titelte das US-amerikanische Nachrichtenmagazin Newsweek und kürte die türkische Zehn-Millionen-Metropole im August 2005 zur "hippsten" Stadt Europas.

Anzeichen eines neu gewachsenen Selbstvertrauens fänden sich überall, heißt es weiter. Zwar sei die Stadt mit Basaren, byzantinischen Kirchen und osmanischen Villen an jeder Ecke immer noch sehr stimmungsvoll. Doch sei der verblaßte Glanz in jüngster Zeit mit neuer Energie angereichert worden. "Die Aktienmärkte sind kräftig am Brummen", und so kehrten "junge, im Westen ausgebildete Türken" nach Hause zurück, "um Unternehmen zu gründen".

Rückblende. Als Armando Rodrigues am 10. September 1964 auf dem Bahnhof Köln-Deutz aus dem Zug aus Portugal steigt, traut der Portugiese seinen Augen nicht: Vertreter der deutschen Regierung und Arbeitgeber schenken dem verdutzten "einmillionsten Gastarbeiter" ein Moped. Und noch während Rodrigues hilfesuchend in die Kameras lächelt, erklärt ein Industriesprecher: "Ohne Ausländer wäre unsere wirtschaftliche Entwicklung nicht denkbar. Ihre Leistung ist um so höher zu bewerten, als Herkunft, Sprache, Klima und die Umstellung auf eine fremde Welt manche Schwierigkeit mit sich bringen."

Die annähernde Vollbeschäftigung hatte die Arbeitnehmer zu einer zunehmenden Forderungshaltung ermutigt. Doch für ihren Wachstumskurs brauchten die Konzerne Arbeiter. Auf Druck der Wirtschaft wurde eine industrielle Reservearmee gerufen. Die sollte nach heutigen Personalkriterien vor allem "Mobilität und Belastbarkeit" mit sich bringen.

Mit der Kanaksprak hat man dort noch weniger Chancen

Ihr Ruf wurde erhört – auch am Bosporus. Bis zum Jahr 1973 stieg die Zahl der türkischen Gastarbeiter allein in West-Berlin auf über zwölf Prozent aller nicht selbständig Beschäftigten. Doch dann kam die Ölkrise. Aufgrund der folgenden Rezession verfügte die Regierung einen Anwerbestopp. Die Politiker waren der naiven Meinung aufgesessen, die Gastarbeiter würden schon einfach wieder gehen. Doch ein türkisches Sprichwort sagt: Heimat ist nicht dort, wo man geboren ist, sondern wo man satt wird. Die Türken reagierten auf die restriktive Politik mit einem verstärkten Familiennachzug. Der verfügte Anwerbestopp bewirkte sein Gegenteil. Auch der Mitte der achtziger Jahre von der Regierung Kohl unternommene Versuch, die 120.000 türkischen Arbeitslosen mittels millionenschwerer Rückführungshilfen (10.500 Mark plus 1.500 Mark pro Kind) zur Ausreise zu bewegen, verpuffte. Die Zahl der türkischen Wohnbevölkerung wuchs ab dem Jahr 1986 wieder zwischen zwei und sechs Prozentpunkten an – die "Schwierigkeiten" bei der Integration, die der Industriesprecher auf dem Kölner Bahnhof beiläufig erwähnt hatte, ebenso. Inzwischen ist eine ganze Generation türkischstämmiger Jugendlicher in Deutschland mit diesem "Problem" aufgewachsen.

Fast ein Drittel aller arbeitslosen Nichtdeutschen stammt aus der Türkei. Die Türken stellen unter den ethnischen Gruppen in Deutschland die höchste Arbeitslosenquote – Tendenz steigend. Beinahe jeder Dritte der rund 2,5 Millionen Türkischstämmigen in Deutschland lebt in Arbeitslosigkeit und Armut. Entsprechend warnt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in einer aktuellen Studie vor Altersarmut bei Arbeitsimmigranten, deren Renten durchschnittlich zwanzig Prozent niedriger sind als bei deutschen Rentenversicherten. Jedes Jahr verläßt knapp ein Viertel aller Berliner Schüler mit nichtdeutschem Hintergrund die Schule ohne Hauptschulabschluß. Von den 1,5 Millionen Schülern, die im letzten Jahr eine Lehrstelle fanden, hatten nicht einmal viereinhalb Prozent einen ausländischen Paß. Wer 60, 70 oder 80 erfolglose Bewerbungen schreibt, verliert den Glauben an seine Zukunft. Manche geben als späteren Berufswunsch gleich "Hartz IV" an.

Was für Wundernachrichten wissen dagegen die Nachrichtensprecher des türkischen Fernsehens TRT zu verkünden – Wirtschaftswachstum in der Türkei 2002: 7,9 Prozent! 2003: 5,9. 2004: 8,9 und 2005 7,4 Prozent! Das bringt auch in Deutschland viele junge Türken zum Nachdenken. Die Zahl der Zuzüge aus der Türkei sinkt seit Jahren. Nachdem auch die Fortzüge im selben Zeitraum entsprechend gesunken waren (bis auf eine Spitze in den Jahren 1993/94), ziehen diese nun seit 2004 gegenüber den Zuwanderungen wieder an. Der aktuelle Saldo der Zuzüge ist einer der niedrigsten seit 1990. Deutschlands größte türkische Zeitung Hürriyet berichtet, daß der jährlich erhobene Index der Remigrationswilligen gegenüber 2000 um zehn Prozent gestiegen sei. Grund: die deutsche Wirtschaftslage.

In Internetforen tauschen sich die Auswanderungswilligen über ihre Hoffnungen, aber auch Versagensängste aus. Die Kommentare aus einem aktuellen Chatroom mit dem Titel "Zurück in die Türkei" sind typisch. Eine Teilnehmerin schreibt: "Ich habe gehört, es gibt gute Chancen für die, die sowohl Deutsch als auch Türkisch können." Ein anderer antwortet: "Ja, aber du mußt beide Sprachen richtig können. Mit der ‚Kanaksprak‘, die manche hier reden, hast du in der Türkei noch weniger Chancen als hier!"

Einer berichtet: "Ich kenne ein paar Leute, die in der türkischen Arbeitswelt nicht zurechtkamen und wieder nach Deutschland zurückgekehrt sind. In der Türkei wird man von den Kollegen gemobbt, weil man ‚Almanci‘ (‚Deutschländer‘) ist."

Ein weiterer bestätigt: "Auch wenn türkische Rückkehrer türkischstämmig sind, haben sie natürlich in Deutschland eine ganz andere Sozialisierung erfahren. Eine Sozialisierung, von der sie meinen, sie wäre der in der Türkei zumindest ähnlich, doch dann sehr oft feststellen: diese ist völlig anders. Wer zum Beispiel nicht weiß, daß man Älteren in der Türkei die Hand küßt, ist Außenseiter. Die kulturellen Gepflogenheiten unterscheiden sich gerade im Geschäftsleben." Und "Óya", die von einer Karriere in Istanbul, Ankara oder Izmir träumt, schreibt: "Meine Eltern sagen: Wenn ich den Schritt endlich mal wagen würde, würden sie mir auch hinterherkommen."

Die Gazi-Universität in Ankara hat die Probleme und Perspektiven von Rückkehrern in einer empirischen Studie untersucht. Die schlechten Aussichten auf dem deutschen Arbeitsmarkt haben die Zahl der auswanderungswilligen jungen Türken seit der Wiedervereinigung verdoppelt. Die meisten Befragten lebten vor ihrer Rückkehr mehr als zehn Jahre in Deutschland. Rund drei Viertel gaben als Grund für die Rückkehr Arbeitslosigkeit an.

Doch auch in der Türkei sind die Perspektiven nicht rosig. So war für 91,25 Prozent der Befragten Schulprobleme die größte Hürde bei der Re-Integration. Ebenfalls über 90 Prozent gaben Mängel beim Sprechen, Verstehen und Schreiben der türkischen Muttersprache als Manko an. Mehr als 80 Prozent berichten von einem "Kulturschock" angesichts türkischer Sitten und Bräuche. 65 Prozent fühlen sich "desorientiert". Bei den Ausbildungschancen stehen 80 Prozent der Jugendlichen vor dem Problem, daß ihre deutsche Qualifikation nicht anerkannt würde. Doch aller Desorientierung zum Trotz wünschen sich alle, eine gute Stelle zu finden, und 80 Prozent wollen heiraten und eine Familie gründen.

"Schnupperaufenthalte" als Anreiz

Am Taksim-Platz im Zentrum Istanbuls treffen sich in einem Café regelmäßig rund zwanzig Männer und Frauen zum "Rückkehrer-Stammtisch". Sie sprechen mit bayerischem, schwäbischem oder Berliner Dialekt. Ihre Eltern kamen nach Deutschland, um Arbeit zu finden; sie gingen, weil sie ihre verloren oder keine bekamen. Sie trinken Wein und reden darüber, was sie an Deutschland vermissen, vergleichen Preise, geben einander Tips für die Wohnungssuche, tauschen Visitenkarten. Sie erzählen von ihren Plänen wie Pioniere.

Lamia Ögütmen, die den Treff gegründet hat, kommt aus Passau. Sie hat sich mit einer Agentur für Bildungsreisen auf deutsche Geschäftsleute und Politiker spezialisiert. Das Geschäft läuft bestens. Auch Billur Öncü aus Berlin hatte Glück: Sie ist Managerin eines großen Nobelhotels. Aber sie sagt auch: "Ohne Geld ist Istanbul die Hölle."

Alev Karatas kann keine Erfolgsgeschichte vorweisen: Die junge Frau vermißt vor allem das Gefühl, integriert zu sein. Sie klagt: "Ich bin schon drei Jahre hier und verstehe immer noch nicht, wie sich die Leute hier organisieren. In Deutschland hatte ich mehr soziale Kontakte." Und mehr Geld, denn sie wird nach türkischen, nicht nach europäischen Stundensätzen bezahlt.

Seinen Lebensstandard vermißt auch Lengiz Timurdas, der mit 500 Euro seine Frau und zwei Kinder in der teuren Stadt ernähren muß. Der Angestellte der Türkisch-Deutschen Buchhandlung um die Ecke hatte in Königswinter die Schule abgebrochen. In der Türkei fand er lange keine Stelle: "Es war echt schwer hier ohne Schulabschluß!" Heute hat er Angst, arbeitslos zu werden, denn nach einem halben Jahr gibt es keine Unterstützung mehr. Bekannte von ihm, auch Deutschtürken, sind in Istanbul gescheitert. "Die sind jetzt ganz unten", sagt er düster.

Hüben wie drüben macht man sich Gedanken um die desorientierten Deutschtürken. Jeder auf seine Weise: Die Bundesagentur für Arbeit (BA) will hierzulande in den nächsten drei Jahren 165 Millionen Euro für mindestens fünftausend zusätzliche Lehrstellen für ausländische Schulabgänger ausgeben. Die Koordinierungsstelle für berufliche Mobilität und Integration im Ausland (KMI, eine vom Bundesministerium für Arbeit finanzierte Einrichtung der deutschen Wirtschaft), bietet Rückkehrwilligen "Schnupperaufenthalte" in der Türkei – inklusive der Probezeit in einem Stellenanbieterbetrieb. Kosten für Flug, Verpflegung und Unterbringung sowie eine Beihilfe zum Lebensunterhalt zahlt das Arbeitsamt.

In der Türkei wurden vom dortigen Ministerium für Erziehung, Jugend und Sport in 67 Provinzen "Integrationskurse" mit einer Dauer von vier Wochen eingerichtet. Ziel ist die Anpassung der zurückgekehrten Schüler an die türkische Erziehung. Es werden ferner Grundwissen und Praxis in Türkisch, Mathematik und Sozialkunde vermittelt. Doch die Bilanz ist negativ. Hauptkritik: Es fehlt an Kursen für Orientierung, türkische Mentalität und landeskundliche Information. Die Studie der Gazi-Universität stellt fest: "Die Schülerinnen und Schüler hatten Probleme mit den unterrichtenden Lehrern, die ihre Erziehungsweisen aus den Aufnahmeländern nicht kannten." Welcher Lehrer in Ankara kennt auch schon die Rütli-Schule in Berlin?

Stichwort: Deutschländer

"Almanci" oder "Almanyarlar", auf deutsch "Deutschländer", nennt man in der Türkei eher abschätzig die Türken, die Deutschland verlassen haben, um in ihre Heimat zurückzukehren. Die Bestimmung der genauen Anzahl der Rückwanderer ist schwierig. Zahlen des Statistischen Bundesamtes, die die offiziellen Abmeldungen am deutschen Wohnort mit dem Ziel Türkei erfassen, liegen seit Jahren um die 40.000 Personen pro Jahr – die Zuwanderung liegt circa in der gleichen Höhe. Die Dunkelziffer ist aber hoch, da Mehrfach-Wanderungen nicht erfaßt werden.

Fotos: Berliner Schüler: Kulturschock in der Türkei; Café im Istanbuler Stadtteil Karaköy: Viele junge, im Westen ausgebildete Türken kehren nach Hause zurück. Doch auch in der Türkei sind die Perspektiven nicht immer rosig.

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