Der langjährige Generalsekretär der Kommunistischen Internationale (Komintern), Georgi Dimitroff, hat die Grundzüge der sogenannten Bündnispolitik der kommunistischen Parteien an einem einprägsamen Beispiel veranschaulicht: Ein Professor, der sich für die Sowjetunion einsetzt, ohne Mitglied der Partei zu sein, ist mehr wert als hundert Kommunisten mit Parteibuch. Ein angesehener Schriftsteller ist mehr wert als 250 Parteimitglieder, ein General mehr als 500 Parteimitglieder. Vom „Gegenwert“ eines Bischofs oder bekannten Theologen war bei Dimitroff keine Rede. Deshalb soll in diesem Beitrag davon die Rede sein, nämlich von einem Musterbeispiel bis heute bewährter und praktizierter „Bündnispolitik“ im „Kampf gegen den Faschismus“. Der Kernsatz dieser Strategie lautet: „Niemals im Vordergrund erscheinen! Überlassen wir die Arbeit unseren Freunden!“ Damit werden zwei Ziele angestrebt und in der Regel auch erreicht: kurz- und mittelfristig eine deutliche Verstärkung der „Front“ gegen den Faschismus, sei es eine „Volksfront“, „Nationale Front“ oder neuerdings ein „Bündnis gegen Rechts“; langfristig die „innere Spaltung“ – so Dimitroff – der Bündnispartner durch Einordnung in die Front und damit Anpassung an die von den Kommunisten bestimmte Strategie und Taktik im Kampf gegen den Faschismus, tatsächlich aber für den Kommunismus. Diese Grundsätze sind allerdings von der Komintern nicht immer befolgt worden, teils aus Gründen der Täuschung, teils aus übergeordneten politischen Entscheidungen der Sowjetunion. Zu erinnern ist daran, daß die Komintern auch eine Bündnispolitik mit Hitler unterstützt hat, zu der sich die Sowjetunion 1939 entschlossen hatte. Alle antifaschistischen Aktionen in Deutschland und ab 1940 in den von Deutschland besetzten Staaten wurden eingestellt; in den westlichen Demokratien dagegen aktiviert. Diese Einstellung änderte sich verständlicherweise mit dem Beginn des Rußlandkrieges im Juni 1941. Im Sommer 1943 wurde unter ausdrücklichem Bezug auf einschlägige Beschlüsse der Komintern und der Exil-KPD in der Nähe von Moskau ein „Nationalkomitee Freies Deutschland“ gegründet, in dem kommunistische Emigranten und Kriegsgefangene aller politischen und gesellschaftlichen Richtungen auf ihre Mitwirkung an der Neuordnung Deutschland nach dem Krieg vorbereitet wurden. In diesem Komitee spielten Pfarrer und Theologen beider Konfessionen eine besondere Rolle, weil sie nicht im Verdacht standen, als Agenten kommunistischer Kriegspropaganda zu fungieren. Sie wurden zusammengefaßt in einem „Arbeitskreis für kirchliche Fragen“. Die besondere Wertschätzung ihrer Mitgliedschaft wurde dadurch unterstrichen, daß ihnen beim Eintritt in das Nationalkomitee ein handgroßes Kreuz ausgehändigt wurde. Sie haben es sichtbar auf ihrer Uniform getragen, insbesondere natürlich auf Bildern in Zeitungen für Kriegsgefangene und auf Flugblättern. Wer hätte das gedacht! Ähnliche Komitees hatten sich auch in anderen Staaten gebildet, so in den USA, Großbritannien, Kanada, aber auch in der neutralen Schweiz. In der Schweiz unterhielt dieses Komitee anregende Kontakte zu Karl Barth, einem der maßgebenden evangelischen Theologen des 20. Jahrhunderts und führenden religiösen Sozialisten. ……………………………. Wesen und Aufgabe des Antifaschismus wurden von Barth demnach sehr viel radikaler definiert als von den Kommunisten selbst, die im Faschismus eine Kampforganisation des Kapitalismus in Krisen sahen und nicht das Ende eines Irrweges deutscher Geschichte. ……………………………. In einem „Brief an die Theologen in der Kriegsgefangenschaft“ vom 8. Juli 1945 erklärte er, „daß er das deutsche Volk und die deutsche Kirche nicht entschuldigen“ könne: „Das deutsche Volk hat Unrecht getan, indem es sich seit dem letzten Weltkrieg und, wenn ich nicht irre, schon lange, lange vorher in einer Gesinnung und Haltung zu helfen und zu Ehren zu bringen versuchte, die endlich und zuletzt in Hitlers Schrekkensregiment innerhalb und außerhalb der deutschen Grenzen ihren Ausdruck finden mußte.“ Insofern habe die Katastrophe von 1945, so in einem vielzitierten „Wort an die Deutschen“ (Herbst 1945) „nicht nur den Irrtum des Hitlerreiches, sie hat auch den Irrtum in den Wurzeln aufgedeckt, aus denen das Hitlerreich hervorgegangen ist“. Deshalb genüge es nicht, allein Hitler „in Grund und Boden zu verdammen“, sondern die „Wurzeln“ des Nationalsozialismus gelte es auszurotten. Darüber war im Prinzip nach dem Zusammenbruch von 1945 eine Verständigung durchaus möglich, nicht aber darüber, welche Wurzeln konkret gemeint waren. Damit wurden Ansatzpunkte für kontroverse politische Auseinandersetzungen bis heute geboten. Nach dem Urteil von Karl Barth reichten sie sehr weit in die deutsche Geschichte zurück, zumindest bis auf Friedrich den Großen, aber auch Martin Luther ist des öfteren wegen seiner Schriften zur Judenfrage als Ahnherr des Nationalsozialismus genannt worden. Zur Vermeidung von Mißverständnissen hat Karl Barth immer auch konkret Personen benannt, die keine Gewähr für eine radikale Neuordnung Deutschlands boten. Ein Aufsatz im Kirchenblatt für die reformierte Schweiz vom 12. Juli 1945 warnt ausdrücklich vor den „feinen und klugen Teufeln“ und nennt den Namen des gerade aus der Haft befreiten Eugen Gerstenmaier, des späteren Bundestagspräsidenten. Karl Barth stützte damit die im links-intellektuellen Milieu bis heute verbreitete These vom „Irrweg der deutschen Nation“ (Alexander Abusch, 1946), nach der jede Epoche der deutschen Geschichte unmittelbar auf Hitler wies – und nicht mehr auf Gott (Ranke). Wesen und Aufgabe des Antifaschismus wurden von Barth demnach sehr viel radikaler definiert als von den Kommunisten selbst, die nach der Definition Georgi Dimitroffs im Faschismus in erster Linie eine Kampforganisation des Kapitalismus in Krisensituationen sahen und nicht das Ende eines Irrweges der deutschen Geschichte. Die sehr unterschiedlichen Vorstellungen von den Wegen und Zielen zu einer Neuordnung Deutschlands wurden vollends offenkundig in der Forderung nach einem sichtbaren Zeichen des gründlichen Wandels im Verhältnis zum Kommunismus. Denn, so argumentierte Barth in dem erwähnten „Wort an die Deutschen“, weil der „russische Kommunismus im künftigen Deutschland auf alle Fälle eine politische, eine wirtschaftliche, eine geistige Macht sein wird, so wäre es weise hinzuzufügen: man wird dieser Begegnung nur dann gewachsen sein, wenn man ihr ungehemmt durch überlieferte, ungehemmt auch durch gewisse neu aufgekommene Vorurteile jedenfalls aufgeschlossen und verständniswillig entgegengeht“. Es bedarf keiner Begründung, warum dieser Ratschlag, so bedenkenswert er im Ansatz auch war, aufgrund der Erlebnisse von 14 Millionen Deutschen während der Flucht und Vertreibung aus den deutschen Ostgebieten und der Besatzungspolitik in der sowjetischen Zone auf nahezu geschlossenen Widerstand stieß. Er dokumentiert nicht nur eine für einen Theologen unverständliche Teilnahmslosigkeit am Schicksal von Millionen unschuldiger Menschen, sondern auch eine grobe Mißachtung ihrer Urteilsfähigkeit. Die unbestreitbaren Tatsachen millionenfacher Verbrechen Stalins nicht nur am deutschen Volk, sondern auch am russischen Volk und an den vom Faschismus „befreiten“ Völkern lassen sich nicht unter dem Rubrum „Vorurteile“ oder „Goebbels-Propaganda“ einordnen. Sie bestätigen vielmehr eine ungebrochene Kontinuität sowjetischer Herrschaftspraxis und verweisen alle Erwartungen eines grundlegenden Wandels der sowjetischen Politik wie sie auch vom „Nationalkomitee Freies Deutschland“ und von der KPD nach Kriegsende verbreitet wurden, in das weite Reich der intellektuellen Illusionen und der politischen Naivität. Damit wurde aber die Bereitschaft zu einer verantwortungsbewußten Auseinandersetzung um politische Grundsatzfragen bewußt und dauerhaft blockiert. Die einfachsten Grundregeln politischer Bildung und Massenkommunikation wurden und werden bis heute mißachtet, weil sie in den Trichterkreis der Reduktion auf kommunistische Fragestellungen und Antworten geraten sind. Dazu gehört unter anderem die Fixierung der Diskussionen um den „Antifaschismus“ auf spezifisch deutsche Vorurteile, was die Tatsache verdrängt, daß die sehr viel härtere Kritik am Kommunismus aus Polen und der Tschechoslowakei kam. Diese Länder hatten sowohl die nationalsozialistische als auch die kommunistische Diktatur leidvoll erlebt und sind deshalb zu einem Vergleich berechtigt. Doch nicht nur diese Frage stellt sich: Barth hat sich vehement gegen die damals gängige Gleichsetzung von nationalsozialistischem und kommunistischem Totalitarismus gestellt, unberührt von allen Erfahrungen der sowjetischen Politik nach 1945. Im Sommer 1949 hielt er eine große Rede im Berner Münster, in der er sein völlig widersprüchliches Verhalten zu erklären versuchte: „Man kann vom Kommunismus eben das nicht sagen, was man vom Nationalsozialismus vor zehn Jahren sagen mußte, (…) daß es sich bei dem, was er meint und beabsichtigt, um helle Unvernunft, um eine Ausgeburt des Wahnsinns und Verbrechens handelt. Es entbehrte nun alles Sinnes, wenn man den Marxismus mit dem ‚Gedankengut‘ des Dritten Reiches, wenn man einen Mann von dem Format von Joseph Stalin mit solchen Scharlatanen wie Hitler, Göring, Heß, Goebbels, Himmler, Rippentrop, Rosenberg, Streicher usw. es gewesen sind, auch nur eine Augenblick im gleichen Atem nennen wollte. Was in Sowjetrußland – es sei denn: mit sehr schmutzigen und blutigen Händen, in einer uns mit Recht empörenden Weise angefaßt worden ist, das ist immerhin eine konstruktive Idee, immerhin die Lösung einer Frage, die auch für uns eine ernsthafte und brennende Frage ist und die wir mit unseren sauberen Händen nun doch noch lange nicht energisch genug angefaßt haben: der sozialen Frage.“ Die „blutigen Hände“, denen bis zu diesem Zeitpunkt zirka vierzig Millionen Menschen zum Opfer gefallen waren (darunter etwa 40.000 Geistliche), wurden damals immerhin noch wahrgenommen; es waren aber gewissermaßen die blutigen Hände eines Geburtshelfers und nicht die eines Massenmörders. Zwar lehnte die große Mehrheit der Pfarrer und erst recht der Gemeinden diese Vorstellungen vom Wesen des Kommunismus entschieden ab. Aber darauf kam es auch gar nicht an, sondern darauf, daß sie von einer kleinen Minderheit geteilt worden sind. Sie sammelte sich in den sogenannten Bruderräten (einer Art Nebenregierungen zu den Kirchenleitungen), in synodalen Arbeitskreisen, in evangelischen Akademien wund Studentengemeinden, in Zeitschriftenredaktionen und anderen Schlüsselpositionen, die sie nach der Entlassung deutsch-christlicher Amtsinhaber besetzen konnten. Es handelte sich gewissermaßen um einen ersten „Marsch durch die Institutionen“; der zweite folgte dann nach 1968. Karl Barth hatte ausdrücklich von der Notwendigkeit einer „personellen Erneuerung“ gesprochen. ……………………………. Die DDR-Führung durfte sicher sein, daß durch diese Entwicklung seitens der EKD kein Widerstand gegen ihre Politik zu erwarten war, wohl aber eine spürbare Unterstützung der „antifaschistischen Friedenskräfte“ in Westdeutschland. ……………………………. Die Macht dieser kleinen Minderheit wurde sehr rasch durch einen mustergültigen Diffusionsprozeß demon-striert, der allen Regeln kommunistischer Einflußstrategien und Taktiken entsprach. Es handelte sich um eine regelrechte monatelange Kampagne gegen den Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland und Bischof von Berlin, Otto Dibelius. Er widersprach entschieden den von Karl Barth und den Bruderräten verfolgten Zielen. Anlaß für die Kampagne war die Veröffentlichung einer kleinen Schrift des Berliner Bischofs mit dem Titel „Obrigkeit?“ im Jahr 1959. Die entscheidende These dieser Schrift lautet, daß die im Blick auf den Nationalsozialismus getroffenen Aussagen der Bekennenden Kirche (wie in der Barmer Erklärung von 1934) auch auf den Kommunismus zuträfen und daß die evangelische Kirche unglaubwürdig würde, wenn sie diese vielfach belegte Tatsache in Wissenschaft, Publizistik und Politik nicht deutlich beim Namen nenne. Dies um so mehr, als beide Kirchen bereits damals beschuldigt wurden, „zur Unzeit geredet und zur Unzeit geschwiegen“ zu haben. Zur allgemeinen Überraschung forderte diese Veröffentlichung dennoch massive Kritik aller möglichen Institutionen und Gremien der evangelischen Kirchen heraus: Kirchenleitungen, Synoden, Pfarrkonvente, Fakultäten, Studentengemeinden und namhafte Laien haben in Beschlüssen, Resolutionen, Offenen Briefen, Podiumsdiskussionen usw. ihren Widerspruch bekundet, allerdings nicht immer überzeugend begründet. Die Pfarrer an der Basis wurden durch den Verlauf dieser Kampagne deutlich genug „diszipliniert“, die Gemeinden erheblich irritiert. Allerdings sollte nicht voreilig von einer totalen Anpassung an die Politik der SED gesprochen werden. Es sollte jedoch auch nicht übersehen werden, daß die DDR und die politische Linke in der Bundesrepublik diese Entwicklung aufmerksam beobachteten und „die Opposition“ gegen den Dibelius-Kurs materiell und finanziell stärkten (so ein Bericht des Ministeriums für Staatssicherheit vom 5. März 1969). Von einer direkten „Steuerung“ der Opposition sollte nur mit Vorsicht gesprochen werden, denn was sollte die DDR bei diesem Verhalten noch „steuern“? Die DDR-Führung durfte jedenfalls sicher sein, daß durch diese Entwicklung seitens der EKD, beziehungsweise der mitteldeutschen Landeskirchen kein Widerstand gegen ihre Politik zu erwarten war, wohl aber eine spürbare Unterstützung der „antifaschistischen Friedenskräfte“ in Westdeutschland. In diesem Zusammenhang wird immer wieder erklärt, daß die EKD und die Landeskirchen unter den Bedingungen des Kalten Krieges nicht anders handeln konnten, als sie gehandelt haben. Ein bedenkenswertes Argument. Es fordert allerdings zu der nicht minder bedenkenswerten Frage heraus, warum sie die 68er-Bewegung demonstrativ unterstützt haben und weshalb sie den von Karl Barth gewiesenen Weg der Kampfgemeinschaft mit den Kommunisten gegen den Faschismus noch immer nicht aufgekündigt haben. Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaft an der Hochschule der Künste in Berlin. Foto: Schlußkundgebung auf dem 16. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Frankfurt/M., Juni 1975: „Immerhin die Lösung einer Frage, die auch für uns eine ernsthafte und brennende Frage ist – der sozialen Frage“
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