Die Zeit drängt, wenn wir nicht wollen, daß immer mehr engagierte Eltern den Wedding verlassen oder für ihre Kinder Schulen außerhalb des Bezirks suchen.“ Es ist ein stiller Hilferuf, der dieser Tage aus dem Berliner Bezirk Wedding zu vernehmen ist. Die dortige Herbert-Hoover-Realschule mit ihrem Anteil von mehr als 90 Prozent Schülern nichtdeutscher Herkunft hatte im Frühjahr für viel Wirbel gesorgt, als die Medien über die Absprache zur gemeinsamen deutschen Verkehrssprache im Schulbereich berichteten. Die türkische Zeitung Hürriyet schlug Alarm, und der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat, sprach von einem „nationalistischen Bildungsauftrag“. Nichtsdestoweniger wurde der Schule nun vergangene Woche der Nationalpreis 2006 der deutschen Nationalstiftung verliehen. Das Vorgehen von Schülern und Lehrern sei „weit über Berlins Grenzen hinaus zu einem Beispiel im Rahmen einer aktiven Zivilgesellschaft geworden“, hieß es in der Begründung. Und gerade diese „eigene Interessenwahrnehmung“ animiert viele engagierte Eltern aus Berliner Problembezirken dazu, ihre Kinder keiner staatlichen Schule mehr anzuvertrauen. Gründe für Neugründungen sind vielfältig „Unser Bezirk braucht uns“, erklärt dazu die Evangelische Kirche im Wedding und plant zum Schuljahr 2007/2008 die Gründung einer evangelischen Grundschule. Die „jüngsten Ereignisse in unserer Stadt“ hätten sie dazu animiert, heißt es zurückhaltend in einem Aufruf an die in Frage kommenden Eltern. Kein Einzelfall. Allein in Berlin gibt es zwölf evangelische, fünfzehn katholische, acht Waldorf- und über 30 weitere Schulen in Freier Trägerschaft. Tendenz – wie auch in allen anderen Bundesländern – steigend. Besuchten im Jahr 1992 erst 4,8 Prozent der deutschen Schüler freie Schulen, so stieg deren Zahl im Jahr 2004 auf 6,5 Prozent. Unermüdlich werden neue Freie Schulen gegründet, und die Beweggründe dafür sind vielfältig: ob die Misere bei den Ergebnissen der Pisa-Studien, ob die mangelhaften Deutsch-Kenntnisse vieler Schüler, ob die Gewalt und fehlende Disziplin an den Schulen oder auch – gerade in den neuen Bundesländern – die Schließung vieler Schulen, die den Schülern weite Wegstrecken abverlangt. Thomas Hartin, Sprecher einer Zehlendorfer Elterninitiative, begründet den Einsatz für eine christliche Schule zudem gegenüber dem Berliner Tagesspiegel damit, daß sich viele Eltern angesichts der nahenden Einschulung orientierungslos fühlten und eine Wertegemeinschaft suchten, wie sie sie in ihrem evangelischen Kindergarten kennengelernt hätten. Zudem befürchte mancher, daß staatlichen Lehrern „das innere Engagement fehlt“. Dies ist Wasser auf den Mühlen der Schulstiftung der evangelischen Kirche, die dann auch – bezugnehmend auf Ergebnisse einer Studie mit dem Titel „Erträge von Erziehungs- und Bildungsprozessen an Schulen in evangelischer Trägerschaft in Deutschland“ – stolz erklärt: „Die Qualität von Schulen in evangelischer Trägerschaft ist erkennbar besser als die im staatlichen Bildungswesen. Vor allem im Bereich des Leseverständnisses sind Vorteile gegenüber staatlichen Schulen feststellbar. Auch der Anteil von sogenannten Risikoschülern ist deutlich geringer als in staatlichen Schulen.“ Das sehen auch viele Eltern so. Folgerichtig liegt der Schwerpunkt von Schulneugründungen bei den konfessionellen Schulen. So feiert das neue evangelische Gymnasium am Dom zu Brandenburg am 27. August 2006 mit einem Festgottesdienst seine Eröffnung. Laut Präambel stellt die Schule in der Trägerschaft der Schulstiftung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz ihre Arbeit „in den Horizont des christlichen Glaubens. Sein Auftrag ist im Evangelium von Jesus Christus begründet.“ Die Schule, heißt es weiter, „will die Freiheit, Gemeinschaft und Verantwortung erkennen lassen, zu denen Jesus Christus befreit. Ziel der schulischen Erziehung ist es, mit den Schülerinnen und Schülern die christliche Verantwortung für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung zu entdecken und auf vielfältige Weise zum Bestandteil der persönlichen Lebensorientierung zu machen.“ Auf diese Weise ist der evangelische Religionsunterricht fester Bestandteil des Fächerkanons bis zum Abitur und bildet so den wichtigsten Pfeiler des evangelischen Profils des Gymnasiums. Evangelisches Profil? An diesem Punkt stellt sich die Frage nach dem Sonderungsverbot, dem Schulen in freier Trägerschaft unterliegen. Heißt, freie Schulen müssen allgemein zugänglich sein und dementsprechend Schüler aus allen gesellschaftlichen Schichten aufnehmen können. Hierzu erklärt das Evangelische Gymnasium am Dom zu Brandenburg: Man sei „offen für Angehörige anderer christlicher Kirchen, auch für Angehörige anderer Religionen und für religiös nicht gebundene Menschen, unter der Voraussetzung, daß sie für das evangelische Profil aufgeschlossen sind“. Reformpädagogische Konzepte im Mittelpunkt Ähnlich klingt es bei der Evangelischen Grundschule in Potsdam-Babelsberg: Sie „ist offen für alle Kinder, deren Eltern – unabhängig von einer Konfessionszugehörigkeit – die christliche Prägung des Unterrichtes und der Erziehung bejahen“. Ebenfalls mit einem Festgottesdienst öffnet die Evangelische Grundschule Babelsberg zum neuen Schuljahr im August ihre Pforten. Unter Schulträgerschaft der Hoffbauer-Stiftung Hermannswerder, die eng mit Evangelischen Kirchengemeinde zusammenarbeitet, entsteht dort eine offene Ganztagsschule mit jahrgangsübergreifenden Lerngruppen. Orientiert an der pädagogischen Arbeit von Reformpädagogen wie Maria Montessori und „getragen von der Kraft, dem Vertrauen und der Hoffnung christlichen Glaubens“, sollen die Schüler dort „Vertrauen in die Entwicklung der eigenen Fähigkeiten gewinnen“. Dazu, so die Stiftung, „brauchen Kinder offene Lernformen, die ihre Eigenaktivität und Selbständigkeit fördern und individuelle Lernwege ermöglichen. Sie benötigen Freiräume, die zum Probieren auffordern, die zu Problem lösendem und divergentem Denken anregen, in denen Versuch und Irrtum zugelassen und Fehler als Lernweg akzeptiert werden.“ Doch nicht immer ist es das konfessionelle Profil, das Eltern dazu animiert, ihre Kinder auf eine freie Schule zu schicken. Oftmals stehen auch reformpädagogische Konzepte im Mittelpunkt der Entscheidung. Wie etwa bei der Freien Schule Anne-Sophie Künzelsau im württembergischen Hohenlohekreis. Die Schulneugründung startet zu Beginn des neuen Schuljahres mit ihrer „ganzheitlichen reformpädagogischen Schulbildung“. Diese Schulbildung verzichtet auf Jahrgangsklassen. Auch verzichtet sie auf die gewohnten Unterrichtsstunden in 45-Minuten-Blöcken. „Die soziale, handwerkliche, musische und körperliche Entwicklung haben bei uns einen ebenso hohen Stellenwert wie die klassischen Kopffächer“, erklärt die zukünftige Direktorin der Schule, Ulrike von Klitzing. Ergo wechseln sich demnächst Phasen selbstbestimmter Freiarbeit mit dem vernetzten Unterricht in Gruppen ab. Auch sind die gemeinsamen Mahlzeiten ebenso Teil des Lernprozesses wie Freizeitangebote am Nachmittag oder Arbeit in Werkstätten. Trägerin der Freien Schule Anne-Sophie ist die gemeinnützige Stiftung des Befestigungs- und Montagematerialunternehmens Würth. Die Freie Schule finanziert sich überwiegend aus dem Stiftungsvermögen, aus Stiftungen, Spenden und staatlichen Zuschüssen. In diesem Sinne will die „Anne-Sophie“ keine Eliteschule für Kinder wohlhabender Eltern sein, sondern ein „Angebot für Kinder und junge Menschen aus der Region, aus Arbeiter- und Akademiker-Familien ebenso wie aus Familien ausländischer Herkunft“. Überhaupt steht bei den staatlich anerkannten Freien Schulen immer wieder die Frage nach dem Schulgeld im Raum. Dies ist je nach Träger unterschiedlich. Als Beispiel mag die bereits erwähnte Evangelische Grundschule Babelsberg dienen. Deren Schulgeldtabelle für Ganztagsgrundschulen (gültig ab 1. August 2006) führt bei einem Jahresbruttoeinkommen von bis zu 10.225 Euro für ein Kind ein jährliches Schulgeld von 342 Euro (monatlich 27 Euro) auf. Bei einem Einkommen bis 29.399 Euro fallen pro Jahr 840 Euro an und bei einem jährlichen Bruttosalär von 102.257 Euro 4.044 Euro. Die Schulgeldregelung der Schulstiftung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz weicht nur um Nuancen ab. Überhaupt steht die Frage der Finanzierung bei den Freien Schulen oftmals im Vordergrund. Die Bildung ist Ländersache, und so variieren die landeshoheitlichen Probleme um die staatlich garantierten Zuschüsse, die nach Meinung der Freien Schulen zumeist zu niedrig angesetzt werden. „Eigenverantwortliche Schulen sind bessere Schulen“ Insbesondere bei der Neugründung einer Freien Schule aus Elternengagement sind den Angaben des Geschäftsführers der Arbeitsgemeinschaft freier Schulen in Brandenburg Detlef Hardorp, „hohe Hürden zu überwinden: Bei Grundschulen bedarf es eines besonderen pädagogischen Konzeptes, man muß qualifizierte Lehrer finden (die allesamt seitens der staatlichen Schulaufsicht genehmigt werden müssen, was natürlich nur geschieht, wenn sie gleichwertig qualifiziert sind), und man muß diese ausreichend bezahlen. Das gestaltet sich oft schwierig: Der Schulträger erhält erst nach einer ‚Wartefrist‘ von zwei Jahren 94 Prozent der vergleichbaren Personalkosten vom Land zur Refinanzierung (eine Finanzhilfe hat das Bundesverfassungsgericht übrigens aus dem Grundgesetz abgeleitet).“ 94 Prozent der Personalkosten, das entspricht nur etwa 60 Prozent der Gesamtkosten, die pro Schüler an einer staatlichen Schule entstehen, heißt es bei den Freien Schulen Brandenburg. „Leuchttürme“ nannte der niedersächsische Kultusminister Bernd Busemann (CDU) jene Schulen, die eines gemeinsam haben: „Schulleitung, Lehrerinnen und Lehrer, Eltern und Schülerinnen und Schüler haben gemeinsam beschlossen, Bildung und Erziehung in ihrem Verantwortungsbereich deutlich zu verbessern, damit die Zukunftschancen der Kinder und Jugendlichen steigen.“ „Aktive Schulen schaffen es, vorzügliche Ergebnisse zu erzielen, und zwar unabhängig von Ausstattung und Personalressourcen“, fuhr er in seiner Regierungserklärung zur Einführung der Eigenverantwortlichen Schule fort und resümierte: „Eigenverantwortliche Schulen sind bessere Schulen als staatlich überreglementierte.“ Dies sagen sich vermehrt auch viele engagierte Eltern und Elterninitiativen. Doch gehen diese noch einen Schritt weiter, unterstreichen das vielbeschworene und vielfach geforderte bürgerliche Engagement und gründen ihre eigene Schule. Stichwort: Artikel 7 Absatz 4 Grundgesetz „Das Recht zur Errichtung von privaten Schulen wird gewährleistet. Private Schulen als Ersatz für öffentliche Schulen bedürfen der Genehmigung des Staates und unterstehen den Landesgesetzen. Die Genehmigung ist zu erteilen, wenn die privaten Schulen in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurückstehen und eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird. Die Genehmigung ist zu versagen, wenn die wirtschaftliche und rechtliche Stellung der Lehrkräfte nicht genügend gesichert ist.“ Foto: Waldorfschule in Magdeburg: Besuchten 1992 erst 4,8 Prozent der Schüler freie Schulen, so wuchs deren Zahl 2004 auf 6,5 Prozent Schüler an Schulen in freier Trägerschaft (im Schuljahr 2004/05) Schüler gesamt an Freien Schulen Bayern 1.610.359 143.588 8,91 % Hamburg 194.993 16.393 8,40 % Bremen 78.961 5.920 7,49 % Saarland 124.345 8.675 6,97 % Baden Württemberg 1.394.401 95.263 6,83 % NRW 2.476.864 59.103 6,42 % Rheinland Pfalz 521.563 31.760 6,08 % Berlin 375.980 13.399 5,15 % Hessen 739.778 37.479 5,06 % Niedersachsen 986.895 47.613 4,82 % Thüringen 216.141 8.826 4,08 % Mecklbg.-Vorp. 169.365 6.140 3,62 % Sachsen 378.066 13.284 3,51 % Schleswig-Holstein 350.113 12.118 3,46 % Sachsen-Anhalt 238.729 7.959 3,33 % Brandenburg 263.805 8.242 3,12 %
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