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Der tiefe Blick hinter die Stirn

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Man ist, was man ißt.“ Diese Behauptung geht angeblich auf Pop-Papst Andy Warhol zurück, der seine Depressionen und Akneprobleme auf einen unverdrossenen Fast-Food-Konsum schob. Ohne „Candy“ – Warhol verdrückte Unmengen Süßigkeiten -, so glaubte der Künstler kurz vor seinem Tod, hätte er „völlig anders gemalt“. Doch die Zusammenhänge zwischen Ernährung und psychischer Konstitution sind nicht erst seit Warhol bekannt. Daß der „Stoffwechsel des Feindes“ im Kampf gegen den Terror eine Rolle spielt, wurde dagegen bislang kaum konstatiert. Die Speichel- oder Urinprobe eines monogamen, christlichen Fast-Food-liebenden Amerikaners dürfte sich tatsächlich von der eines polygamen, fundamentalistischen, unterernährten Pakistani unterscheiden. Zumindest gehören solche Unterscheidungsmerkmale neuerdings zum Raster der Geheimdienste. Man versucht den Gegner „genetisch dingfest“ zu machen, und dazu gehört auch die Erstellung einer zuverlässigen „körperlichen Landkarte“. Das Bordmenü eines Fluggasts ist daher für die Fahnder ebenso wichtig wie Kreditkartendetails und E-Mail-Adresse. Doch gerade der Gaumen ist ein Verräter. Blutdruck, Pulsgeschwindigkeit, Virilität, Stoffwechselprodukte – ein guter „Profiler“ der CIA schreckt heute vor keiner Körperöffnung zurück. Andere Institutionen gehen sogar noch einen Schritt weiter. Im Windschatten der verängstigten Großmacht ist es kein Wunder, daß sich viele Konzerne berechtigt fühlen, ihren Kunden „hinter die Stirn“ zu blicken. Menschenwürde, Datenschutz, Privatsphäre – alles wurde in den letzten Jahren bedenkenlos in die Tonne getreten. Seitdem der Kapitalismus seine Vormachtstellung gefährdet sieht, werden auch die Menschenrechte von Fall zu Fall außer Kraft gesetzt. Besonders die Abwanderung der „gemarkten“, markentreuen Massen aus den konstruierten Konsumpferchen hin zu anderen, weniger materialistischen Lebensweisen wird als Bedrohung empfunden. Und wem ist noch zu trauen, seitdem Markentreue nur noch ein Lippenbekenntnis ist? Der durchschnittliche Verbraucher ist zum illoyalen Schnäppchenjäger verkommen. Für ein paar Euro weniger läßt er seine altvertraute Marke links liegen. Auch teure Image-bildende Werbung verpufft heutzutage an der Wirklichkeit von Hartz IV. Trotzdem sollen die Leute kaufen, sie müssen sogar – denn sonst kollabiert das System. Was tun? Die Gewißheit, mit Werbung Geld in den Sand zu setzen, bereitete schon Einzelhandels-König John Wanamaker schlaflose Nächte: „Die eine Hälfte des Geldes, das ich für Werbung ausgebe, ist Verschwendung. Die Frage ist nur, welche Hälfte?“ Ein junger Zweig der Marktforschung glaubt endlich Mittel gefunden zu haben, dieses Rätselraten zu beenden. Magnetresonanztomographen erlauben es Markom-Spezialisten seitdem, in Echtzeit auf Gehirn-Scans zu sehen, was Verbrauchern gefällt und was sie kaltläßt. Das Magazin Newsweek nannte die Technik einen Schritt, „den heiligen Gral des Marketing zu finden“ und „vorauszusagen, welche Wahl ein Konsument treffen wird, bevor er überhaupt vor die Wahl gestellt wurde.“ „Scannen statt befragen“, lautet seitdem die Devise, und die meisten Unternehmen investieren inzwischen bei ihrer Produktentwicklung in Hirnforschung. Von AOL Time Warner über Ford bis hin zum Kaffeeröster Tchibo sind sie alle dabei. Der Daimler-Chrysler-Konzern meldete sogar ein Patent auf ein „Verfahren zur Optimierung und Erfassung von Produktattraktivität oder Produktakzeptanz“ (auf Grundlage von Gehirn-Scans) an. Um die liebenswert altbackene Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) könnte es bald sehr still werden. Gesellige Gruppenbefragung ade! Goodbye, ihr Clustermengen und Erbsenzähl-Analysen! Wie ein Kriminologe in der Verbrechensaufklärung geht auch der Neuromarketeer davon aus, daß er in erster Linie „belogen“ wird. Hemmschwellen, falsche Scham oder eingespieltes Rollenverhalten führen das Frage-und-Antwortspiel oft ad absurdum. Das mag lustig und trivial erscheinen, und doch zeigt sich hier, in der Grauzone von Profitgier und „New Technology“, derselbe befremdende Zeitgeist wie überall in den Medien: Menschen sollen in ihre zukünftige Rolle als biologische Regelkreise, als „Wetware“, eingeübt werden. Um ein möglichst exaktes Profil zu erstellen, muß jede Form von Privatsphäre beseitigt werden. Glaubt man den Konzernchefs, dann geschieht dies alles nur zum Besten des Konsumenten. Man will es ihm doch nur recht machen und zu 100 Prozent seine Bedürfnisse befriedigen. Der Spruch, einem Menschen „ein Angebot zu machen, das er nicht abschlagen kann“, war bisher nur aus Mafia-Kreisen bekannt. Inzwischen hört man ihn auch in Marketingkreisen. Dabei geht es nicht nur um die Degradierung von König Kunde zu einer vegetativen Masse. Es geht auch um die Rekrutierung von gläsernen Bürgern. Die Methodologie der Konsummaschinerie könnte auch von politischen Apparaten genutzt werden – um Stimmvieh zu rekrutieren. Was hätte man dem entgegenzusetzen? In einer Zeit, in der die Außenpolitik eines Landes fast eins zu eins der Wirtschaftspolitik seiner Unternehmen entspricht und ganze Kulturkreise nur noch als Handelszonen wahrgenommen werden, ist der evolutionäre Rückschritt des zivilisierten Menschen zum leicht zu gängelnden – ich bitte um Verzeihung – „Spaß-Humanoiden“ längst vollzogen. Das sinkende Bildungsniveau, die forsch steigende Zahl der Analphabeten, der moralische Bankrott der politischen Elite, die Kälte und Verrohung des Umgangs in einer korrupten Gesellschaft – all das begünstigt ein Klima, in dem es leicht ist, den fehlenden zwischenmenschlichen „Kitt“ aus ethischen und moralischen Konventionen durch simple Kontrollmechanismen zu kompensieren. Im übrigen haben sich die Zeiten seit Descartes geändert. Die Wissenschaft hat das Mechanische in der Seele entdeckt, und die Idee eines vorprogrammierten Lebens entbindet den zerebral erschlafften Zeitgenossen von der unbequemen Verantwortung für sich selbst. Doch Trost kommt auch hier von der Wissenschaft. „Es ist nicht so, daß wir tun, was wir wollen, sondern daß wir wollen, was wir tun“, erläutert der Wiener Neurobiologe Peter Walla. Und Uwe Munzinger, Marktforscher beim renommierten Nürnberger Institut Icon Added Value, erklärte: „Natürlich trifft das Gehirn Entscheidungen in Millisekunden, bevor wir darüber nachdenken können (ansonsten wären wir gar nicht lebensfähig), aber das heißt ja nur, daß wir nicht alle Entscheidungen rational fällen, sondern auf Basis von Emotionen bzw. Erfahrungen, die in den sogenannten somatischen Markern gespeichert sind.“ Somatische Marker? Was zunächst nach einer abgeschmackten Datenaustauschfloskel klingt, stammt aus der Feder des angesehenen Neurologen Antonio Damasio, der diesen Begriff im Jahr 1994 prägte. Er versuchte so, das emotionale Erfahrungsgedächtnis zu beschreiben, zu gut deutsch, das „Bauchgehirn“, das uns – allen rationalen Erwägungen zum Trotz – in fast jeder Situation warnt oder euphorisiert. Daß selbst die logischsten Erwägungen emotional eingefärbt sind, erscheint bis heute die einzige gültige Erkenntnis der werbetreibenden Zunft. Es ist der Grund warum Pepsi in einem Blindtest immer besser als Coca Cola abschneidet, während der bewußte Geschmackstest immer zugunsten von Coca Cola verläuft, als ob die Testpersonen die positiv aufgeladene Markenwelt von Coke mitschmecken könnte. Hier zeigt sich, was konsequent betriebene „mediale Massage“ ausrichten kann. Unvorstellbar, daß auch SS-Männer in den vierziger Jahren die koffeinhaltige Limonade schlürften oder die Folterknechte von Abu Ghraib ihre Opfer mit den handlichen 0,2-Liter-Flaschen penetrierten. Solche Vorstellungen sind angesichts des überwältigenden Markenimage von Coca Cola fast nicht möglich. Schon der Versuch, ein solches Bild zu evozieren, wirkt verstörend – denn die somatischen Marker in unserem Erfahrungsgedächtnis stellen sich quer. Übertragen wir die Möglichkeiten des Neuromarketing in die politische Dimension, dann beschleicht einen der Verdacht, daß diese neuen Chance, die Massen zu manipulieren, nicht ungenutzt bleiben wird. Angesichts der anhaltenden Flut von Kollektivkatastrophen und der zunehmend stümperhaften Verschleierung der Tatsachen in den Medien, werden sich Politiker schon bald von Neurobiologen beraten lassen. Wie die Scanner-Technik bereits für ein Projekt der „Political Correctness“ genutzt wurde, verdeutlicht die 2003 erschienene Publikation der Neurologin Elisabeth Phelps ( https://www.psych.nyu.edu/phelpslab/ ). Die New Yorkerin scannte die Gehirne junger, vorwiegend weißer Männer in der Hoffnung, ein Muster „rassistischer Neigung“ finden zu können. Man könne so in Zukunft „Rassisten wissenschaftlich ermitteln“. Sie veröffentlichte ihre Ergebnisse in Political Psychology, Nr. 24 unter dem Titel „Race, Behavior, and the Brain: The Role of Neuroimaging in Understanding Complex Social Behaviors“. Natürlich mag es sich bei diesem Versuch um einen Einzelfall und bodenlosen Unfug handeln, und doch ist man sich in den Staaten längst der Gefahr einer neuropolitischen Gesellschaft bewußt. Judy Illes vom Stanford Center of Biomedical Ethics erklärte zu diesem Thema: „Wenn wir anfangen, Fragen nach der politischen Neigung einer Person und seinen Gedankengängen zu stellen, interpretieren wir bereits, was uns als Menschen ausmachen sollte. Darin könnten erschreckende Möglichkeiten der Manipulation liegen.“ Und Gary Ruskin, Sprecher der Verbraucherschutz-Organisation Commercial Alert, formulierte es in einer Klage an das Senate Commerce Committee noch deutlicher: „Was würde in diesem Land (den USA) wohl geschehen, wenn Marktforscher und Meinungsforscher in der Lage wären, jene neuralen Vorgänge im menschlichen Gehirn nachzuvollziehen, die im Supermarkt oder an der Wahlurne zu einer bestimmten Präferenz führten? Was wäre, wenn sie dann in der Lage wären, dieselben neuralen Vorgänge künstlich zu triggern, um dauerhafte Vorlieben für eine Marke oder einen Kandidaten zu erzeugen?“ Befürchtungen dieser Art werden hierzulande noch in die Niederung der Science-fiction verwiesen, und doch fällt es schwer zu glauben, daß dieselben demokratischen Politiker, die heute Folter, Verschleppung und Lauschangriffe auf ihre Bürger dulden, vor diesem Schritt zurückschrecken werden. Alle sollen den Segen der libertären Gesellschaft erfahren, die Prägung durch unsere Konsum-Ikonen – frei nach Goethe: „Und sind sie nicht willig, so brauch ich Gewalt.“ Die Gewalt, von der hier die Rede ist, wird sich allerdings sehr subtil manifestieren, ebenso wie die totale Kontrolle. Die Wähler von heute sind dann die Schmecker von morgen, und politisch korrekt ist dann das, was alle somatisch als das Richtige fühlen. Fazit: In einer Gesellschaft, die sich – jeglicher Wertsysteme entkleidet – zunehmend und primär als primitiver Marktplatz versteht, könnten Techniken des Neuromarketing schon bald als Instrumente der politischen Willensbildung dienen. Daß dadurch das Spektrum der politischen Meinungen noch weiter eingeschränkt wird, liegt auf der Hand. Denn was der Schmecker nicht kennt, wählt er nicht. Stichwort: Neuromarketing Immer mehr Unternehmen setzen in der Marktforschung auf Neuromarketing. Dies besteht aus zwei Teilen, erstens aus „Erkenntnissen aus der psychologischen Marktforschung mit einem besonderen Augenmerk auf die Informationsaufnahme und auf das Konsumentenverhalten“, zweitens aus „Erkenntnissen, die aus den Methoden der Gehirnforschung für das Marketing abgeleitet werden“. Einige Konzerne haben erste Forschungen unternommen. Eine Auswahl der entwickelten Studien und Ergebnisse findet man unter www.marktforschung-mit-neuromarketing.de Thor Kunkel arbeitete bis 1994 für führende Werbeagenturen wie Young & Rubicam, Leo Burnett, Team BBDO und McCann-Erickson Amsterdam. In seinem neuen, bisher unveröffentlichten Roman „Bin Shoppen“ beschreibt der Bestseller-Autor („Endstufe“, Eichborn-Verlag) die Morgendämmerung einer neuropolitischen Gesellschaft und das Scheitern einer letzten Revolution. Foto: René Magritte, Der geheime Doppelgänger (Öl auf Leinwand, 1927): Die anwachsende Grauzone von Profitgier und „New Technology“

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