In den letzten sechzig Jahren haben die amerikanische und die deutsche Geschichtsschreibung etliche Darstellungen über die Wehrmacht und über den Zweiten Weltkrieg produziert. Während manche Themen immer wieder behandelt werden und wissenschaftlich kaum ergiebig sind, bleiben mehrere Komplexe unerforscht. Eine perspektivlose Geschichtsbetrachtung ist entstanden, die nur durch gründliche und allumfassende Forschung und Lehre korrigiert werden kann. Wolfgang Venohr gehörte zu jenen deutschen Historikern, die in Büchern und Fernsehfilmen eine zusammenhängende und wahrheitsnähere Geschichtsbetrachtung anstrebten. Die Akten der Wehrmachtrechtsabteilung und insbesondere die 226 Aktenbände der Wehrmacht-Untersuchungsstelle für Verletzungen des Völkerrechts sind seit dreißig Jahren jedem Historiker zugänglich. Jedoch haben die deutschen Historiker anscheinend bewußt vermieden, bestimmte Fragen zu stellen und bestimmte Untersuchungen durchzuführen. Dies ist um so bedauerlicher, als viele Wissensträger inzwischen verstorben sind. Als amerikanischer Jurist und Historiker habe ich mich an diese wichtige und legitime Thematik gewagt, nicht ohne gewisse Sorge, denn bereits als Fulbright-Stipendiat in Deutschland habe ich die herkömmlichen Denk- und Forschungsverbote gespürt. Ich habe dieses Wagnis vielleicht wegen meines amerikanischen Passes besser als jeder deutsche Kollege überstanden. Jedenfalls durfte ich als erster Forscher die Akten der Wehrmacht-Untersuchungsstelle auswerten. Im Hinblick darauf, daß Zeitgeschichte nicht nur die Erforschung und Auswertung von Dokumenten, sondern auch die Befragung von Zeitzeugen erfordert, habe ich etwa 150 Heeres-, Marine- und Luftwaffenrichter über die Verfahrensweise der Wehrmacht-Untersuchungsstelle befragt sowie auch über die Praxis der Kriegsrichter in der Ahndung von Kriegsverbrechen durch Mitglieder der eigenen Truppe, vor allem in Fällen von Plünderung und Vergewaltigung. Meine Untersuchung erstreckte sich über alle Kriegsschauplätze, vor allem aber im Ostfeldzug. Neben der Befragung von Kriegsrichtern habe ich etwa zweihundert Zeitzeugen und Opfer befragt, deren Namen in den Wehrmachtsakten vorkommen. Durch den Vergleich der Dokumente und Aussagen sowie auch durch die Auswertung von einschlägigen Akten in amerikanischen, britischen, französischen und schweizerischen Archiven konnte ich feststellen, daß die Wehrmacht-Gerichtsbarkeit zum Schutze der Zivilbevölkerung in besetzten Gebieten in justizkonformer Weise funktionierte und daß die kriegsgerichtlichen Ermittlungen über alliierte Völkerrechtsverletzungen im Zweiten Weltkrieg durchaus ernstzunehmen waren, das heißt sie sind von Amtswegen durchgeführt worden und nicht zu Propaganda-Zwecken fabriziert. Die Ergebnisse meiner Forschung wurden 1979 in Buchform veröffentlicht, und daraufhin wurden zusammen mit Wolfgang Venohr und Michael Vogt zwei Dokumentarfilme im Auftrag des WDR durch Lübbe-TV gedreht, die dann am 18. und am 21. März 1983 mit hohen Einschaltquoten ausgestrahlt wurden. Venohr meinte, daß die Akten der Wehrmacht-Untersuchungsstelle für Verletzungen des Völkerrechts „den bedeutendsten Aktenfund nach den Nürnberger Prozessen“ darstellen. Darum erwarteten wir, daß die amerikanischen, britischen, französischen, polnischen und russischen Historiker sich mit den aufgeworfenen Fragen auseinandersetzen würden. Dies geschah aber nicht. Kaum waren die Filme gelaufen, verschwand die Diskussion wieder. Trotz der guten Rezensionen wie in der Historischen Zeitschrift, in der Zeit und im Spiegel, wurde die Thematik von der Wissenschaft wieder vergessen. Ich habe mich wiederholt im Bundesarchiv-Militärarchiv erkundigt, ob die Akten der Wehrmacht-Untersuchungsstelle von anderen Historikern nun regelmäßig konsultiert wurden. Zu meinem Erstaunen erfuhr ich, daß außer Franz Seidler so gut wie kein Forscher die Akten wieder benützt habe. Somit ist eine große Herausforderung an die Historikerzunft gewachsen. Es gilt, nicht nur die unterschiedlichen Aspekte dieser Akten auszuwerten, sondern auch und vor allem die Konsequenzen für das Bild der Wehrmacht und der Wehr-machtrichter zu definieren. Im Internationalen Militärtribunal in Nürnberg 1945-46, in den zwölf amerikanischen Nürnberger Nachfolgeprozessen 1946-48 sowie auch in vielen Verhandlungen danach herrschte noch ein verhältnismäßig objektives Bild der Wehrmachtrichter und der Wehrmachtgerichtsbarkeit. Wäre im Jahre 1945 oder 1950 oder gar 1960 die Frage gestellt worden, ob die unbegründete Erschießung von Zivilisten im besetzten Gebieten von der Wehrmachtgerichtsbarkeit geduldet worden sei, so wäre die Antwort negativ ausgefallen. Es lebten noch viele ehemalige Hee- res-, Marine- und Luftwaffenrichter, die für die Manneszucht der Truppe gesorgt hatten und deshalb eine große Anzahl deutscher Soldaten wegen Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung in besetzten Gebieten verurteilt hatten. Es lebten die wegen Plünderung, Vergewaltigung oder Mord verurteilten Soldaten. Auf allen Kriegsschauplätzen, in Frankreich, Griechenland, Italien, Norwegen und in der Sowjetunion sind Plünderung, Vergewaltigung und Morde an Zivilisten geahndet worden. Erst nach einigen politischen Kampfschriften der siebziger Jahre haben sich gewisse Pauschalisierungen über die Wehrmachtsoldaten und über die Wehrmachtgerichtsbarkeit allmählich verbreitet. Bei vielen Journalisten – sogar auch bei manchen Juristen und Historikern – ist eine Karikaturvorstellung der Wehrmacht entstanden, wonach Wehrmachtrichter nur Nazijustiz betrieben und Wehrmachtsoldaten Freibrief hatten, Verbrechen an Nichtdeutschen zu begehen. Diese Vorstellung hat auch die Reemtsma-Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ vermittelt. Es ist bezeichnend, daß weder in der ersten noch in der zweiten Ausstellung eine Auswertung und Bewertung der Akten der Wehrmacht-Untersuchungsstelle für Verletzungen des Völkerrechts vorgenommen wurde und daß Beispiele der Wehrmachtgerichtsbarkeit zum Schutze der Zivilbevölkerung in besetzten Gebieten fehlten. Diese Themen paßten offensichtlich nicht ins gewünschte Bild. Die Reemtsma-Ausstellung ist nun geschlossen. Aber wie viele Schulklassen haben die einseitige Darstellung gesehen? Wieviele Besucher glauben noch an die Karikatur der Wehrmachtsoldaten und der Wehrmachtjustiz? In freier Forschung und Diskussion kann man das Bild vervollständigen. Zwar fehlt noch eine systematische Sammlung und Kommentierung von Wehrmacht-Urteilen sowie auch eine Herausgabe der Akten der Wehrmacht-Untersuchungsstelle. Hier liegt wahrlich eine würdige Herausforderung an das Institut für Zeitgeschichte in München, an das Militärgeschichtliche Forschungsamt in Potsdam, an das Bundesarchiv. Hunderte von noch vorhandenen Feldurteilen belegen, daß die Wehr-machtgerichte Ausschreitungen deutscher Soldaten gegen die Zivilbevölkerung in besetzten Gebieten ahndeten. Die Notwendigkeit, Ordnung und Disziplin in der Truppe aufrechtzuerhalten, verlangte, solche Ausschreitungen scharf zu verurteilt, manchmal mit der Todesstrafe. Eine Auswertung der unvollständigen Akten der Heeres-, Marine- und Luftwaffenjustiz läßt schließen, daß die Wehrmachtjustiz die Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung von 1907 und der Genfer Kriegsgefangenenkonvention von 1929 strikt ausgelegt und angewandt hat. Somit kann man feststellen, daß die rechtfeindliche politische Einstellung der Machthaber in Deutschland keinesfalls die Verfolgung von deutschen Kriegsverbrechen unmöglich gemacht hat. Auf allen Kriegsschauplätzen, in Frankreich, Griechenland, Italien, Norwegen und in der Sowjetunion sind Plünderung, Vergewaltigung und Morde an Zivilisten geahndet worden. Im vierten Kapitel meines Buches „Die Wehrmacht-Untersuchungsstelle“ habe ich einen Bruchteil der gesichteten Fälle beschrieben, die aber repräsentativ für die Haltung der Wehrmachtgerichte gelten. Nur in der Sowjetunion wurden aufgrund des Erlasses „Über die Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit im Gebiet Barbarossa“ vom 13. Mai 1941 die Möglichkeiten der Wehrmachtjustiz teilweise eingeschränkt. Allerdings konnten die Kriegsgerichte einschreiten, und sie schritten auch ein, wenn dies zur Aufrechterhaltung der Manneszucht oder die Sicherheit der Truppe erforderte. Außerdem gab der Oberbefehlshaber des Heeres, Generalfeldsmarschall Walter von Brauchitsch, am 24. Mai 1941 einen Disziplinarerlaß heraus, in dem schärfste Aufrechterhaltung der Manneszucht gefordert wurde. Die von Hitler beabsichtigte Ausschaltung des Verfolgungszwanges in der Sowjetunion ist daher in der Praxis meistens durchlöchert worden. Neben den Feldurteilen im Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg i.Br. und im Bundesarchiv-Zentralnachweisstelle in Kornelimünster liefern die Nürnberger Prozesse einschlägige Beweise, daß deutsche Morde an nicht-deutschen Zivilpersonen durch die Wehrmachtgerichte geahndet wurden. Otto Kranzbühler, der Verteidiger von Großadmiral Dönitz, hat dem Gericht zahlreiche Feldurteile vorgelegt sowie eine Kurzfassung, die als Dokument Dönitz-49 im Band XL der IMT-Dokumentenbände veröffentlicht wurde. Unter diesen Feldurteilen befinden sich viele, die zum Verständnis der Haltung der Wehrmachtsgerichte gegenüber Verbrechen deutscher Soldaten beitragen. Als Beispiele seien die Fälle Köllner und Tempelmeier angeführt: K. hatte am 16. Februar 1943 zwei-hundertfünfunddreißig russische Kriegsgefangene von Mariupol nach Militopol zu überführen. Auf dem Marsch erschoß K. zunächst drei und später einen der Gefangenen, weil sie fleckfieberverdächtig waren. Bei einem Bahnübergang fielen Schüsse von einem Landeseigenen in deutschen Diensten stehenden Posten. Mit dem Ruf „Partisanen“ erschoß er diesen Posten und befahl die Erschießung weiterer elf hiesiger Hilfspolizisten. K. wurde zum Tode verurteilt. „Milderungsgründe sind angesichts der grenzenlosen Roheit des Angeklagten, der schweren Gefährdung der Waffenehre und des Ansehens der Wehrmacht und der Beunruhigung der Bevölkerung nicht zu finden.“ Das Urteil wurde bestätigt und vollstreckt. T. hat auf der Fahrt von Mariupol nach Woroschilowsk von seinem Kraftwagen aus gesehen, daß sich russische Frauen an einem notgelandeten deutschen Flugzeug zu schaffen machten. Um die Frauen zu vertreiben, gab er einen Schuß ab. Obwohl die Frauen sich zu Boden warfen und teilweise flüchteten, schoß Tempelmeier zum zweiten und dritten Mal und traf eine Frau tödlich. Am 5. November 1942 wurde T. zum Tode und zum Verlust der Wehrwürdigkeit und der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt. Bei Bestätigung wurde das Urteil in zehn Jahre Zuchthaus gemildert, da T. erst 18 Jahre alt war. Hans Laternser, der Verteidiger des Generalstabes und des Oberkommandos der Wehrmacht, hat 3.186 eidesstattliche Erklärungen von Feldmarschällen, Generälen und vielen wichtigen Zeugen dem Gericht vorgelegt, unter anderem über die Bestrafung deutscher Kriegsverbrechen durch Wehrmachtsgerichte. Leider sind keine dieser 3.186 eidesstattlichen Erklärungen in den IMT-Doku-mentenbänden veröffentlicht worden. Ich habe die Originale im Friedenspalast in Den Haag eingesehen und photokopiert. Darunter befinden sich auch die Aussagen von Generaloberst Blaskowitz (Nr. 1680) über schärfste Maßnahmen gegen Übergriffe der Soldaten, von Generaloberst Guderian, der die Weitergabe des Barbarossa-Erlasses verboten hatte (Nr. 1683), von einem Offizier der Waffen-SS Günther Kaddatz (Nr. 1667), der erklärte, daß die Partisanenbekämpfung in Italien entsprechend des Völkerrechts geführt wurde und bei allen Übergriffen der Soldaten strenge Bestrafung verhängt wurde. Generaloberst Otto Deßloch, Gerichtsherr des I. und II. Flakkorps, später der Luftflotte 4, berichtete in einer eidesstattlichen Erklärung vom 18. Juni 1946 für das Nürnberger Tribunal über folgende Beispiele: „Im Frühjahr 1944 wurde eine Flakbatterie nach Budapest verlegt und war dort in freigemachte Judenwohnungen gezogen. Es kam auf Veranlassung des Batterieführers, eines jungen Oberleutnants, zu mehreren unberechtigten Beschlagnahmen von Pretiosen und Radioapparaten. Eine Jüdin, die Anzeige erstatten wollte, wurde getötet. Der Oberleutnant wurde wegen dieser Tat zum Tode verurteilt, mehrere Unteroffiziere und Mannschaftsdienstgrade zu langjährigen Zuchthausstrafen.“ Deßloch bestätigte das Urteil, und der Oberleutnant wurde erschossen. In den ersten Monaten des Jahres 1943 hatten zwei Soldaten der Luftwaffe, Angehörige der Luftnachrichtentruppe, abgesetzt in einer kleinen Ortschaft nördlich Rostow am Don, einzelne jüdische Einwohner des Dorfes getötet. Beide Soldaten wurden wegen Mordes angeklagt und verurteilt. Es wäre eine würdige Aufgabe der Wissenschaft, der These nachzugehen, ob die Wehrmachtgerichtsbarkeit besser als die amerikanische oder als die französische funktionierte. Ferner berichtete Generaloberst Deßloch in seiner eidesstattlichen Erklärung für den Nürnberger Prozeß: „An der strengen Handhabung der Kriegsgerichtsbarkeit bei Ausschreitungen gegen die Zivilbevölkerung hat der sogenannte Barbarossa-Erlaß, wie man sonst wohl annehmen möchte, nichts geändert. Die höheren Befehlshaber standen diesem Befehl durchweg ablehnend gegenüber und machten daher von der Möglichkeit, Straftaten gegen die Zivilbevölkerung ungestraft zu lassen, keinen oder nur sehr zurückhaltenden Gebrauch. Ich habe als Gerichtsherr meines Flakkorps schon aus dem Gesichtspunkt der Aufrechterhaltung der Manneszucht keinen Gebrach von dem Barbarossa-Erlaß gemacht.“ Ähnlich berichtete Christian Freiherr von Hammerstein, Chefrichter der Luftwaffe, daß Ausschreitungen gegen die Zivilbevölkerung in besetzen Gebieten stets strengen Strafen unterlagen und daß der Barbarossa-Erlaß in der Luftwaffe nicht zur Anwendung kam. Generaloberst Gotthard Heinrici berichtete über kriegsgerichtliche Todesurteile, die auf seine Bestätigung vollstreckt wurden, unter anderem gegen drei Angehörige der 25. Panzer-Grenadier-Division wegen Ermordung von fünf Frauen. Major Wolf von Bülow berichtete in einer eidesstattlichen Erklärung vom 16. Juni 1946: „Bei der Absetzbewegungen im Süden der Ostfront im Frühjahr 1944 wurde durch einen Unteroffizier der Panzerarmee 3 eine russische Familie erschossen, deren Haus abgebrannt. Der Täter und seine Helfer, ein weiterer Unteroffizier und ein Obergefreiter motivierten ihre Tat als Racheakt. Die Aburteilung dieser Tat wurde durch das Kriegsgericht der 3. Panzerdivision unter dem Vorsitz von Kriegsgerichtsrat Dr. Gramm in Kischinew (Bessarabien) durchgeführt. Das Gericht stellte fest, daß sich die Angeklagten in gröbster Form gegen das Völkerrecht und die erlassenen Befehle vergangen hätten. Dementsprechend lautete das Urteil bei sämtlichen Angeklagten auf Todesstrafe.“ Einige Autoren haben die deutsche Kriegsgerichtsbarkeit in vereinfachender, oft in polemischer Weise behandelt, wobei durch die Auswahl einiger grotesker Fälle ein verzerrtes Bild vermittelt wird. Manfred Messerschmidt und Fritz Wüllner führen als Beispiel für die Wehrmachtjustiz ein Verfahren gegen den SS-Sturmmann Ernst und einen Polizeiwachtmeister der Panzerdivision Kempf an, die etwa fünfzig Juden in einer Synagoge zusammengetrieben und grundlos zusammengeschossen hatten. Der Anklagevertreter forderte Todesstrafe wegen Mordes. Das Gericht verhängte gegen den SS-Mann drei Jahre Gefängnis, gegen den Wachtmeister neun Jahre Zuchthaus. Dieser Fall wurde ebenfalls im Nürnberger Prozeß beim Kreuzverhör des SS-Richters Reinecke behandelt, der feststellte, daß, obwohl der Antrag des Anklagevertreters auf Mord lautete und die Todesstrafe wegen Mordes zu verhängen beabsichtigte, der Richter den rechtlichen Tatbestand des Totschlages zugrunde gelegt hat. Ähnlich berichtet Ilse Staff über den Prozeß gegen den technischen Kriegsverwaltungsinspektor Weisheit, der Ende Juli 1942 in Balabanowska, Sowjetunion, fünfundsiebzig Juden erschossen hat, weil er angeblich befürchtete, daß sie sich den Partisanen im Nachbardorf anschließen würden und somit die Ortschaft gefährdeten. Das Gericht hat den Angeklagten nicht nach Artikel 211 Strafgesetzbuch (Mord), sondern nur nach Artikel 212 Strafgesetzbuch (Totschlag) verurteilt. Obwohl diese Beispiele zeigen, daß in einigen Einzelfällen die Gerichte zu milde geurteilt haben, beweisen sie trotzdem, daß die Tatbestände als verbrecherisch galten und die Täter wegen Mordes angeklagt worden waren. Mit anderen Worten, die Verjährung ruhte nicht, weil die Täter angeklagt wurden. Es ist die Überzeugung dieses Autors, daß die von manchen Autoren und Politikern verbreitete Karikaturvorstellung der Wehrmachtsoldaten und der Wehrmachtgerichtsbarkeit unhaltbar ist. Es ist unwissenschaftlich, weiterhin diese Feldurteile zu ignorieren. Eine wichtige Aufgabe für die Wissenschaft wäre es, die deutsche Wehrmachtgerichtsbarkeit mit der amerikanischen, britischen, französischen, russischen zu vergleichen. Aufgrund meiner eigenen Forschungen bin ich der Auffassung, daß trotz der politischen Erlässe und trotz der schwierigen Situation des totalen Krieges die Wehrmachtgerichtsbarkeit viel für den Schutz der Zivilbevölkerung in besetzten Gebieten geleistet hat. Diese war sicherlich justizkonformer als die sowjetische. Es wäre eine würdige Aufgabe der Wissenschaft, der These nachzugehen, ob die Wehrmachtgerichtsbarkeit besser als die amerikanische oder als die französische funktionierte. Es sind keine Dissertationen oder Habilitationsschriften zu diesem Thema veröffentlicht worden. Hier liegt eine Herausforderung für die Professoren. Ferner beweisen die Akten der Wehrmacht-Untersuchungsstelle, daß die Luftwaffe, Marine und Armeen der alliierten Mächte gröbste Kriegsverbrechen begingen. Diese wurden von den alliierten Kriegsrichten meistens weder untersucht noch verurteilt. Hier liegt auch eine würdige Herausforderung für Historiker und Juristen dieser Länder. Prof. Dr. iur et phil. Alfred M. de Zayas , Genf, ist amerikanischer Völkerrechtler und Historiker, ehemaliger Sekretär des UN-Menschenrechtsausschusses sowie Autor der Bücher „Die Nemesis von Potsdam“ (Herbig Verlag 2005) und „Die Wehrmacht-Untersuchungsstelle“ (7. erweiterte Ausgabe, Universitas Verlag 2001). Der hier veröffentlichte Text ist eine gekürzte Fassung seines Beitrages in der Gedenkschrift für Wolfgang Venohr „Ein Leben für Deutschland“, Edition JF, Berlin 2005 Foto: Mahnmal für Militärjustiz-Opfer in Wilhelmshaven: Die Kriminalisierung der deutschen Wehrmachtsjustiz schafft immer neue Opfermythen