Unser Preisträger ist ein freischaffender Historiker, und das verdient eine ganz besondere Anerkennung. Sich ohne den regelmäßigen Genuß von Diäten oder eines Salärs diesem Fach und dieser Wissenschaft zu widmen, bedarf einer ganz besonderen Liebe zum Fach und einer ganz besonderen Berufung. Die Themen, denen sich unser Preisträger gewidmet hat, sind einerseits mit der Dissertation das Thema des politischen Antisemitismus in Deutschland in der wilhelminischen Epoche, dann eine ganze Serie von Werken zur Anfangsphase des Zweiten Weltkrieges und die fachliche Kritik der sogenannten Wehrmachtsausstellung. (…) Der Preisträger des letzten Jahres, Thorsten Hinz, hat von einem verengten Geschichtsbild in Deutschland gesprochen. Das ist natürlich ein Euphemismus, weil es wohl nicht verengt, sondern vielmehr einfach zerbrochen ist. (…) Die Kontinuität, die Geschichte ausmacht, ist weitgehend verlorengegangen. Wir haben in den letzten Jahrzehnten etwas gehabt, was einer meiner Lehrer mal als die Reform der Geschichte durch die Elimination der Vergangenheit bezeichnet hat. Die wurde dann substituiert allenfalls durch eine ganz spezifische Vergangenheit, die nicht vergehen darf. Aber doch eher in einem episodischen Charakter, so daß die Geschichte ein wenig in die Richtung der Theologie gerückt wurde, des Religionsunterrichts samt Bußübungen und Wallfahrten, die aber die eigentliche Kausalität der Geschichte, wie es eigentlich gewesen ist und warum sich eines aus dem anderen entwickelt hat, doch eher in den Hintergrund hat treten lassen. (…) Dazu kommt, daß wir es mit einer feindlichen Übernahme der Geschichts- durch die Sprachwissenschaften zu tun haben. (…) Wenn Sie natürlich den Diskurs ins Zentrum des Interesses setzen, dann verändert sich in der Geschichtswissenschaft einiges. Dann kommt es nicht mehr darauf an, ob Sie die Dinge, die Sie behaupten, auch belegen können, ob die dem Dialog mit den Quellen standhalten, sondern dann kommt es nur noch darauf an, im Rahmen des Diskurses mit Ihrer Hypothese sympathisch dazustehen – egal, ob Sie sie belegen können oder nicht. Das uvre unseres Preisträgers umfaßt durchweg vernünftige Werke. Sie sind – was den Verleger vielleicht nicht freut, aber den Leser und den Laudator sehr wohl – unaufgeregte Werke. Sie streben nicht in den Bereich der Bekenntnislyrik, sondern gehen wirklich der Frage nach, wie es eigentlich gewesen ist und warum. (…) Die Frage, der sich Scheil in letzter Zeit im wesentlichen gewidmet hat, ist die Anfangsphase des Zweiten Weltkrieges. Und dem Autor gebührt ein besonderes Verdienst: weil er nämlich einen sehr genau argumentierten Schlag führt gegen etwas, was man den deutschen Größenwahn mit verkehrten Vorzeichen nennen könnte. Die gängigen populären Darstellungen zur Genesis des Zweiten Weltkrieges zeichnen ein Bild, das sich vom analytischen Gehalt eigentlich von der Göbbelschen Propaganda nur unwesentlich unterscheidet. Sie haben nämlich ein Bild eines einzigen vitalen Partners im internationalen System, der einer Reihe von dekadent mumifizierten Kontrahenten gegenübersteht, die offenbar regungslos abwarteten, was dem großen Führer denn als nächstes einfällt. Diese Vorstellung eines Akteurs und verschiedener mehr oder weniger unbeteiligter Passanten im internationalen System erscheint doch jedem Kenner als wenig plausibel, und genau hier setzt unser Autor an, indem er diese seltsam pervers herrenmenschliche Attitüde in der Betrachtung dieser Dinge etwas zurechtrückt. Das internationale System ist nun mal eines, wo alle ständig in Bewegung sind. Wo es sich, sozusagen in der Jägersprache, um moving targets handelt. Wo es nicht darauf ankommen, daß ein Einzelner beschlossen hat, unabänderliche Entschlüsse zu fassen, sondern diese sehr wohl abänderlich waren und sie von allen und zwar ständig gefaßt und revidiert wurden. Es handelt sich also um den Teil eines Systems, der im wesentlichen nicht von den Intentionen sondern vom Potential der Mächte bestimmt wird. (…) Es war die Frage des Mächtesystems als Ganzem, und es ist nahezu ein Geniestreich von Scheil, dieses Mächtesystem mit jenem Vokabel zu benennen, das heute oft mißbräuchlich verwendet wird und inflationär, nämlich Globalisierung. Was sich nämlich abspielt im 20. Jahrhundert, ist genau das, die Globalisierung, und zwar in dem Sinn, wie wir sie heute oft in ökonomischen Belangen verwenden, Globalisierung gab es natürlich seit Jahrhunderten, nämlich in dem Sinn, daß die Europäer nach Übersee expandierten. Und was wir im 20. Jahrhundert haben und im 21. wohl noch sehr viel mehr, ist, daß die Übersee beginnt zurückzuschießen. (…) Das Werk unseres Autors ist ein Bekenntnis zur Vernunft, sich nicht in Bekenntnislyrik zu ergehen, sondern zu schauen, wie es eigentlich gewesen ist, es bedeutet die Rückkehr der Geschichtswissenschaft zu ihrem eigentlichen Thema und die Emanzipation der Geschichte vom Diskurs. Das würde ich als große Leistung herausstreichen. Wenn Sie dieses Paradigma der Globalisierung der Weltpolitik ernst nehmen, das einfach die entscheidende Weichenstellung des 20. Jahrhunderts ist und durch Konzentration auf eine deutsche Nabelschau verlorenzugehen droht, kommen Sie allerdings auch zu einem Schluß, den ich Ihnen nicht vorenthalten möchte, nämlich daß es in Europa nicht die einen Verlierer gibt, nämlich uns, die sich in Selbstmitleid zu ergehen haben oder in Buße oder was auch sonst immer. Sondern daß ganz Europa notgedrungen zu den Verlierern zählt. (…) Prof Dr. Lothar Höbelt lehrt Neuere Geschichte an der Universität Wien.
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