Heimatliches rückt wieder in den Vordergrund: regionale Küche, Radfahren und Wandern in der Umgebung, Interesse an der lokalen Geschichte, Volkshochschulkurse für Mundarten und Dialekte, Urlaub zu Hause und natürlich der hiesige Weihnachtsmarkt. Das Pendel des ach so fortschrittlichen Globalismus und Kosmopolitismus schlägt zurück: Heimat ist wieder gefragt, der unmittelbare Lebensraum rückt wieder in den Mittelpunkt des Interesses. Das mag auch damit zu tun haben, daß sich viele Menschen im Zeichen der Krise dieses Landes den weltweit agierenden Pauschaltourismus trotz aller Billig-Flug-Angebote nicht mehr leisten können, mit wachsender Armut verliert man Mobilität und wird notgedrungen stationär. Die Menschen sind – bedingt durch die ökonomische Krise – gezwungen, sich stärker an regionalen Gegebenheiten zu orientieren, weil ihnen der Zugang zur weiten Welt nur noch bedingt zur Verfügung steht. Man orientiert sich wieder stärker an Familie, Freundeskreis und lokalem Umfeld. So gesehen, hat die ökonomische Krise auch etwas Gutes. Wir können also eine neue Lust auf Heimat ausmachen. Doch was ist das? Wenn wir in das deutsche Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm aus dem Jahre 1877 schauen, so wird der zunächst offensichtliche räumliche Bezug sichtbar: Heimat ist das Land oder der Landstrich, in dem man geboren ist oder bleibenden Aufenthalt hat. Neben dem räumlichen Bezug hat Heimat aber auch eine soziale Dimension. Das „Lexikon für Theologie und Kirche“ faßt Heimat als „den überschaubaren, von der Ursprungsgruppe durchwalteten Lebensraum, der infolge der dort erfahrenen, strukturprägenden Früherlebnisse, die ihrerseits an die vertrautesten Beziehungspersonen geknüpft sind, als das ursprünglichste, bergende und tragende Stück Welt empfunden wird“. Heimat steht – jedenfalls in der Rückerinnerung der meisten Menschen – für überschaubare, bergende und damit letztendlich intakte Sozialbeziehungen. So ist es nicht verwunderlich, daß Heimat vielfach überhöht wird als Ort der Identitätsgewißheit, als Ort der Authentizität oder wie bei Ernst Bloch als „Utopissimum in der Utopie“, denn jede Utopie ist „idealisierte Erfahrung“ (der frühen Kindheit in der Heimat). Heimat als idyllisches Dorf mit intakten und bergenden Sozialbeziehungen wird zur Utopie, weil die Heimat-Erfahrung (der Kindheit) die negativen Konnotationen schlicht ausblendet, überschaubare Sozialbeziehungen implizieren auch soziale Kontrolle, dörfliche Solidarität impliziert auch Aufeinander-angewiesen-Sein als Notgemeinschaft. Christian Graf von Krockow schreibt richtig: „Die Erinnerung ans Verlorene übergoldet. Der gesicherte Abstand zeigt als Idylle, was wahrhaftig nicht harmlos war.“ Jenseits aller Überhöhungen erlebt man in der Heimat Gemeinschaft. In der Heimat kann sich der Mensch als Ganzes einbringen, in der Welt, der funktional differenzierten Gesellschaft, lediglich als Rollen- und Funktionsträger. ……………………………. Vergemeinschaftung ist ein sozialer Prozeß, in den der einzelne mit seiner ganzen Person eintritt. Vergesellschaftung dagegen ist eine soziale Verbindung zu einem bestimmten, partikularistischen Zweck. ……………………………. Wir rekurrieren hier auf die Unterscheidung zwischen „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ von Ferdinand Tönnies. Nach Tönnies ist die Verbindung der Menschen in der Gemeinschaft „organisch“, in der Gesellschaft „mechanisch“: „Alles vertraute, heimliche, ausschließliche Zusammenleben wird als Leben in Gemeinschaft verstanden. Gesellschaft ist die Öffentlichkeit, die Welt. In Gemeinschaft mit den Seinen befindet man sich von der Geburt an, mit allem Wohl und Wehe dran gebunden. Man geht in die Gesellschaft wie in die Fremde.“ Gesellschaft ist danach Öffentlichkeit, Welt und Fremde, Gemeinschaft kann somit nur Heimat sein. Ist Gesellschaft öffentlich, dann ist Heimat „heimlich“, verdeckt, intim, nicht jedermann zugänglich. Auch Max Weber versteht unter „Vergemeinschaftung“ ein soziales Handeln, das auf subjektiv gefühlter Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht, dies im Gegensatz zur „Vergesellschaftung“, die „auf rational (wert- oder zweckrational) motiviertem Interessenausgleich oder auf ebenso motivierter Interessenverbindung beruht“. Vergemeinschaftung ist folglich im Gegensatz zur Vergesellschaftung ein sozialer Prozeß, in den der einzelne voll mit seiner ganzen Person eintritt. Vergesellschaftung dagegen ist eine soziale Verbindung zu einem bestimmten, damit notwendigerweise partikularistischen Zweck. Der ganzheitlich soziale Beziehungsaspekt von Vergemeinschaftung tritt auf über Sprache, gleiche Tradition und „Nachbarumwelt“, ein Begriff Webers, der dem der Heimat am nächsten kommt. Die Synonymisierung von Heimat und Gemeinschaft ist dabei nur teilweise richtig. Heimat impliziert auch den Fremden, den Zugezogenen, den bekannten Unbekannten, mit dem man nur die Gemeinschaft des Ortes gemeinsam hat. Georg Simmel hat in seinem „Exkurs über den Fremden“ die typische Sozialbeziehung zum Fremden beschrieben, die uns gleichsam als negativer Bezugspunkt Einsichten über Heimat vermittelt. Der Fremde kommt nach Simmel gelegentlich mit jedem einzelnen der Ursprungsgruppe in Berührung, ist aber mit keinem der Gruppe durch „verwandtschaftliche, lokale, berufliche Fixiertheit“ organisch verbunden. Zum Fremden hat man ein abstraktes Verhältnis, mit ihm hat man nur gewisse allgemeinere Qualitäten gemein, „während sich das Verhältnis zu den organisch Verbundenen auf der Gleichheit von spezifischen Differenzen gegen das bloße Allgemeine aufbaut“. Simmel verdeutlicht dies an der mittelalterlichen Judensteuer. Die Judensteuer wurde für jeden Juden gleich festgesetzt. „Diese Fixiertheit beruhte darauf, daß der Jude seine soziale Position als Jude hatte, nicht als Träger bestimmter sachlicher Inhalte.“ Der Jude wurde fix besteuert im Gegensatz zu den anderen Bürgern, diese waren in Steuersachen Besitzer eines bestimmten Vermögens, und die Steuer konnte den Wandlungen der Besitzstände folgen. Deutlich kommt hier die abstrakt-formelle Beziehung zu den als fremd angesehenen Personen zum Ausdruck, die sich von der inhaltlich-organischen Verbindung der „Einheimischen“ abhebt. Diese lediglich abstrakte, nicht inhaltlich-organische Verbindung zum Fremden hat aber noch eine andere Seite. Da der Fremde nicht involviert war in die vielfältigen inhaltlichen Bindungen und die lokalen Interessenstrukturen, galt er vielfach als objektiv, er konnte jenseits aller Interessenkonfundierungen objektiven Rat geben. Das Moment der Ferne erlaubt es ihm, das Ganze sine ira et studio zu überblicken. Simmel führt als Beispiel die Praxis der oberitalienischen Städte im Mittelalter an, „ihre Richter von Auswärts zu berufen, weil kein Eingeborener von der Befangenheit von Familieninteressen und Parteiungen frei war“. Gleiches gilt für die Zerstörung des „Indegenatsrechts“ durch die preußische Verwaltung. Die Verwaltungsstellen waren von Eingesessenen besetzt, denen das Wohl ihrer „Landschaft“ wichtiger war als die Anweisungen der zentralistischen Verwaltungsspitze in Berlin. Die bürokratische Zentralverwaltung mußte mit dem Indegenat brechen, um die Räson des „institutionellen Flächenstaates“ gegen die Lokalinteressen durchzusetzen. Dieses Ziel erreichte man in Preußen dadurch, daß beispielsweise die Landratsämter vornehmlich an Nichteingesessene vergeben wurden – an altgediente Offiziere oder an loyale Beamte aus anderen Regionen. Überhaupt wurde versucht, die Beamtenschaft als quasi künstlichen Stand jenseits gesellschaftlicher Parteiungen anzusiedeln, der Beamte trägt in dieser Hinsicht das Signum des Fremden. Durch die Konstruktion des Beamtentums sollte die „Objektivität“ des Fremden gegenüber gesellschaftlichen Parteiungen als Stand realisiert werden. Heimat als Differenz gegen das bloß Allgemeine meint eine spezielle Differenz zur Welt, ein Lokalkolorit, der Heimat von allem anderen abhebt in Dialekt, Aussehen, Menschenschlag. Heimat ist so gesehen ein Relationsbegriff, bei dem Nicht-Heimat immer mitgedacht werden muß. Dabei sind die Pole Heimat/Fremde verwischt und hochgradig variabel. In politischer Hinsicht kann ein viel größeres Gebiet als Heimat bezeichnet werden als beispielsweise in geographischer Hinsicht. Wer in geographischer Hinsicht Heimat als ein bestimmtes Dorf bezeichnet, kann in politischer Hinsicht gleichwohl eine ganze Region als seine Heimat ansehen, auch eingedenk der Tatsache, daß eigentlich mit dem Nachbardorf bereits die Fremde beginnt. Generell gilt: Je weiter, je größer der Bezugspunkt, desto größer ist die Heimat. Ein Franke und ein Friese mögen im fernen Amerika sich ihrer gemeinsamen Heimat vergewissern, obwohl sie, in deutschen Verhältnissen dimensioniert, Welten unterscheiden. Heimat und Vaterland wurden häufig synonym gebraucht. Deutschland als Ganzes sollte Heimat sein, obwohl Deutschland wie jeder Nationalstaat aus vielen Heimaten besteht. Die unterentwickelten ökonomischen und sozialen Verhältnisse in Deutschland trugen Verantwortung dafür, daß sich, wie es Helmut Plessner formulierte, Deutschland als Nation „verspätete“. Dadurch wurde eine innere Verbindung zwischen den Mächten der Aufklärung und der Formung des Nationalstaates verhindert. Der französische Staat hat alles Provinzielle nivelliert, das Prinzip der „Eingesessenheit“ wurde hinweggefegt, aus den Regionen wurden Departements. ……………………………. Heimatbindung bleibt auch heute unverzichtbar. Freilich darf darüber gewonnene kollektive Identität nicht dazu führen, daß die Fremde desavouiert wird. Die Identität der anderen muß ertragbar sein. ……………………………. Die deutsche Staatskonstruktion hat sich dagegen von Heimat nicht emanzipieren können. Solchermaßen mußte der Staat den Heimatgedanken usurpieren und letztlich bis zur Blut-und-Boden-Ideologie des Nationalsozialismus auswachsen lassen. Der Staat legitimierte sich „völkisch“, es gab keinen Gesellschaftsvertrag, der im Hobbesschen oder Rousseauschen Sinne den Staat aus Vernunftgründen als eine künstliche Institution entstehen ließ. Heimat wurde solchermaßen politisch instrumentiert, als Staatsideologie mißbraucht und realiter gerade von den Nationalsozialisten in ihrer Gleichschaltungspolitik nachhaltig geschwächt. Doch die eigentliche Zäsur stellt der Zweite Weltkrieg und seine Folgen dar. Der Zweite Weltkrieg machte uns Deutsche heimatlos. Die einen – die Heimatvertriebenen – verloren ihre Heimat real, geographisch, die anderen verloren die Heimat, indem sie in ihrem Bewußtsein zu einer zu vernachlässigenden Größe wurde. Die Heimat-Bewußtlosigkeit nach dem Krieg läßt sich gut versinnbildlichen an der Modernisierungswut, die mit dem steigenden Wohlstand entstand: Fachwerkhäuser wurden verputzt, Straßen begradigt, Flure bereinigt, Dialekte nicht mehr gesprochen. Der Heimat-Glorifizierung folgte die Heimat-Negation. Doch um welchen Preis. Überall die gleichen Schnellstraßen, die gleichen familienfreundlichen Fertighäuser, die gleiche Großstadtkultur in Singapur, München oder Tokio machen Örtlichkeiten unidentifizierbar und damit gesichtslos. Kultur entsteht immer in Differenz zum Allgemeinen, eine One world-Einheitskultur ist eine contradictio in adjecto, sie wäre wie die Speise amerikanisch konfektionierter Schnellrestaurants: schlicht unausstehlich! Heimat als Besonderheit gegen das Allgemeine dagegen ermöglicht Identitätsbildung, denn auch Identität bildet sich immer in Differenz zu etwas. Gut ist es, wenn die Umwelt des Menschen solche Möglichkeiten der Identitätsfindung vorstrukturiert. Spätestens seit Arnold Gehlens Anthropologie wissen wir, daß das Subjekt überlastet ist, wenn es seine Identität aus sich selbst heraus schaffen muß. Heimat, die als solche identifizierbar ist, bietet Formen der kollektiven Identität, auf die gerade eine individualisierende Gesellschaft nur schwer verzichten kann. Vor diesem Hintergrund bleibt auch in heutiger Zeit Heimatbildung und -bindung unverzichtbar. Freilich darf über Heimat gewonnene kollektive Identität nicht dazu führen, daß Nicht-Heimat, die Fremde desavouiert wird. Der eigenen Identität muß die der anderen ertragbar sein. Oder wie Theodor W. Adorno in seiner konservativen Spätphase formulierte: Der Stand der Versöhnung sei weder ununterscheidbare Einheit noch feindliche Antithetik, sondern „Kommunikation des Unterschiedenen“. „Friede ist der Stand eines Unterschiedenen ohne Herrschaft, in dem das Unterschiedene teilhat aneinander“ („Stichworte“). Und Christian Graf von Krockow schreibt: „Gewiß brauchen wir beides, Freiheit und Bindung, Fremde und Heimat. Aber läßt sich denn keine Brücke erbauen oder endlich so etwas finden wie Mitte und Maß? Das ist die alte deutsche Frage, die immerwährende Ungewißheit.“ Prof. Dr. Jost Bauch lehrt Soziologie an der Universität Konstanz. Auf dem Forum der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt zum Thema „Multioptionale Gesellschaft“ (JF 44/05). Foto: Kopfweiden an einem Weiher am Rande des Dorfes Langenhagen im mecklenburgischen Kreis Lübz: „Heimat als Besonderheit gegen das Allgemeine dagegen ermöglicht Identitätsbildung, denn auch Identität bildet sich immer in Differenz zu etwas. Gut ist es, wenn die Umwelt des Menschen solche Möglichkeiten der Identitätsfindung vorstrukturiert. Heimat, die als solche identifizierbar ist, bietet Formen der kollektiven Identität, auf die gerade eine individualisierende Gesellschaft nur schwer verzichten kann.“