Erweiterung plus Vertiefung“ lautet das floskelhafte Credo der paneuropäischen Einigungsbewegung. Gemeint sind räumliche Ausdehnung und finale Rechtsform bzw. „Architektur“ der Europäischen Gemeinschaft. Das Erweiterungsthema hat längst Hochkonjunktur. Eine jahrzehntelang desinteressierte Öffentlichkeit übt sich in überfälligen Diskussionen über den Sinn eines Verbundes alter EU-Staaten mit Polen, Tschechien, Kroatien, der Türkei usw. Wie aber steht es um die Vertiefung? Seit dem Maastricht-Vertrag schreitet diese langsam voran, macht aufgrund homöopathischer Dosierung der einzelnen Schritte jedoch selten Schlagzeilen. Die Aufregung um die Euro-Einführung vor drei Jahren ist längst verklungen. Zu hoffen bleibt, daß die frisch entflammten Debatten über die sogenannte europäische Verfassung diesen Trend nachhaltig umkehren. Frankreich als Bewahrer bester nationalliberaler Traditionen? Es wäre nicht das erste Mal! Das bislang kühnste Vertiefungsmodell hat Joseph Fischer am 12. Mai 2000 in der Berliner Humboldt-Universität vorgestellt. Es nennt sich „Bundesstaat (Föderation) Europa“ und läßt sich im Kern bis zu Gründervätern Europas wie Robert Schumann zurückverfolgen. Auf der Grundlage eines europäischen Verfassungsvertrages – nicht identisch mit dem aktuell diskutierten – will Fischer die kommunalen, regionalen und nationalen Bereiche der Staatlichkeit mit einer vierten supranationalen (europäischen) Ebene überwölben. Diese Ebene soll mit klassischen Legislativorganen in Gestalt eines Zweikammerparlaments, darunter einer unmittelbar von „Unionsbürgern“ gewählten Vertretung, sowie mit einer Exekutive in Gestalt einer europäischen Regierung (ersatzweise eines direkt gewählten europäischen Staatsoberhauptes) wichtige Elemente unserer deutschen Bundesebene widerspiegeln. Fischers „Bundesstaat (Föderation) Europa“ unterscheidet sich markant von jener „Föderation von Nationalstaaten“, mit der französische Politiker wie Jacques Delors, Jacques Chirac und Lionel Jospin das „europäische Ge-sellschaftsmodell“ (Jospin) kennzeichnen. Dieses Modell fußt auf de Gaulles charmanter Vision vom „Europa der Vaterländer“. Anders als Fischer nähern sich die Franzosen supranationalen Ideen eher zögernd und bislang auch nur dann, wenn die Schrumpfung nationalstaatlicher Kompetenzen per Saldo eigenen Wirtschaftsinteressen dient. Erhellendes Beispiel ist die Euro-Einführung. Das gaullistische Föderationskonzept sollte hierzulande treffender Konföderation, Staatenbund oder Staatengemeinschaft genannt werden. So eifrig und detailgetreu Fischer die Institutionen seines supranationalen Bundesstaats entwirft, so blaß und kon-turenarm bleibt das gedankliche Fundament. Worin liegt die politische Rechtfertigung einer europäischen Föderation? Von halbwegs ausgearbeiteten staatsethischen Theorien kann bei Fischer keine Rede sein. Am 12. Mai 2000 griff er zum Rettungsanker der „unabweisbaren“ EU-Osterweiterung: „Sie wird eine grundlegende Reform der europäischen Institutionen unverzichtbar machen.“ Die Bundesrepublik hat ein Maß an rechtsethischer Bewährung erreicht, daß jedes supranationale System, das sie ablösen oder ihre Befugnisse substantiell beschneiden möchte, in Rechtfertigungsnot geraten muß. Allerdings enthält Fischers Gedankengang zwei gravierende Mängel. Erstens war die Osterweiterung keineswegs so unabweisbar, wie Europa-Idealisten und Großkonzerne es jahrelang gepredigt haben. Alternative Wege einer Zusammenarbeit zwischen der Union und ihren östlichen Nachbarn wurden kaum geprüft, weil sie nicht zur politisch korrekten Ideologie deutscher Bringschuld und zum Shareholder-Konzept einer auf billige Arbeitskräfte sowie stabile Absatzmärkte im Osten spekulierenden „globalisierten“ Wirtschaft passen. Zweitens wird die Osterweiterung die europäische Integration keineswegs vertiefen. Das Projekt Europa dürfte in einer gewaltigen Erosion enden. „Erweiterung bei gleichzeitiger Vertiefung“; das ist nichts anderes als die Quadratur des Kreises! Wie will man alte und neue EU-Staaten, die den Verbund als Freihandelszone und von Deutschland finanzierten Reparaturbetrieb für marode Volkswirtschaften betrachten, in einen gemeinsamen Bundesstaat führen? Unsicherheit mag sich deshalb hinter Fischers Bekenntnis zum Fortbestand beträchtlicher Nationalstaatsreste verbergen. Gleichwohl wird sein Konzept dadurch kaum schlüssiger. Überdies setzt es sich drei prinzipiellen Gegenargumenten aus. Das erste beschreibt den immensen finanziellen und administrativen Aufwand, der die Errichtung einer weiteren staatlichen Ebene dauerhaft begleiten würde. Selbst Fischers Vorschlag einer „vertikalen Personalunion“ würde das nicht richtungweisend ändern. Die Mandatsträger wären einerseits überfordert und dürften andererseits auf eine annähernd verdoppelte Besoldung drängen. Kombinierte Mandate in den Institutionen von Nationalstaat und Europäischer Föderation werfen zudem delikate politische und staatsrechtliche Fragen auf. Verwiesen sei auf die vertikale Aufteilung der Staatsgewalt in der Bundesrepublik Deutschland. Sie soll nicht nur Kooperation, sondern auch belebende Konkurrenz zwischen den Machtebenen des Bundes und der Länder fördern. Ein Bundestagsabgeordneter hat daher nichts in den Parlamenten von Bayern, Hamburg oder Sachsen verloren! Das zweite gilt den schweren Demokratiedefiziten in Fischers „Bundesstaat Europa“. Jedes supranationale Gebilde, egal ob zentralistisch oder föderal, forciert die schleichende Entmachtung der einst souveränen Nationen des Abendlandes. Seine Konstituierung würde gegen Art. 20 Abs. 1 sowie Art. 20 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) verstoßen. Die Bestimmungen lauten: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“ bzw. „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“. Volk im Sinne des Art. 20 GG ist keine irgendwie geartete „europäische Bürgerschaft“, sondern das deutsche Volk. Nur dieses darf per Willensäußerung, in der Regel durch ein (verfassungskonformes) Gesetz auf Bundes- oder Landesebene, Hoheitsakte auf deutschem Boden legitimieren. Zwar ermöglicht Art. 23 Abs. 1 GG eine Übertragung von Hoheitsrechten, etwa einzelnen Rechtsetzungskompetenzen, auf die Europäische Union. Eine komplette oder auch nur partielle Übertragung originärer deutscher Staatsgewalt (im Juristenjargon auch „Kompetenzkompetenz“ genannt) gehört aber nicht dazu. Wer dennoch eine verfassunggebende „EU-Bürgerschaft“ oder ähnliches zum Souverän erheben möchte, müßte zuvor Art. 20 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 GG novellieren. Eine solche Verfassungsänderung aber wäre zugleich ein Verfassungsbruch. Heißt es doch in Art. 79 Abs. 3 GG: „Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche … die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.“ Allerdings gibt es ein wohlklingendes Synonym für den Verfassungsbruch von unten: Revolution! Eine rechtsethisch spannende Frage drängt sich auf: Hat das Volk ein Recht auf Revolution? Sie dürfte in einem demokratischen Rechts- und Verfassungsstaat regelmäßig zu verneinen sein. Den Anhängern einer europäischen Föderation bleibt allein die Hoffnung auf Evolution, also auf allmähliche Entstehung einer supranationalen Kulturgemeinschaft mit ausgeprägtem Zusammengehörigkeitsgefühl. Nur diese könnte sich irgendwann das Etikett „europäisches Volk“ verdienen und hätte dann rechtsethisch begründbare originäre Rechtsetzungsbefugnisse, die in letzter Konsequenz die europäischen Nationalstaaten überwinden würden. Wie soll ein europäischer Superstaat eigentlich die prozeduralen Bedingungen sinnvoller „Volksherrschaft“ erfüllen? Spätestens nach einem EU-Beitritt der Türkei wären rationale Prozesse demokratischer Willensbildung nicht einmal im Ansatz möglich. Sprachbarrieren und in Jahrhunderten gewachsene ethnokulturelle Eigenarten würden die Entstehung homogener gesamteuropäischer „Öffentlichkeit“ – Träger und Wegbereiter des demokratischen Diskurses – auf Dauer zur realitätsfremden Schimäre machen. Vollends als ideologischer Ballast – dritter grundsätzlicher Einwand – entlarven sich Fischers Vorschläge bei einem Blick auf die politische Ordnung der Bundesrepublik Deutschland. Trotz aller schleichenden Kompetenzverluste verbürgt diese immerhin noch kulturelle Identität. Sie hat zudem in ihrer Ausformung als demokratischer Rechts- und Verfassungsstaat ein solches Maß an Effektivität und rechtsethischer Bewährung erreicht, daß jedes supranationale System, das sie ablösen oder ihre Befugnisse substantiell beschneiden möchte, in Rechtfertigungsnot geraten muß. Gleichwohl vorhandene Webfehler unserer Verfassung wie die übertriebene Ausblendung plebiszitärer Elemente ließen sich in einem Vielvölkerstaat Europa erst recht nicht vermeiden. Sie würden sich dort sogar verstärken, ohne realistische Chance auf systemimmanente Korrektur. Von Demokratie oder großen Freiheitsvisionen ist bei Fischer denn auch kaum die Rede. Weder das deutsche noch irgendein anderes Volk soll über seinen „Verfassungsvertrag“ oder einzelne europäische Gesetze abstimmen. Deutlicher denn je entlarvt er sich als undemokratischer Kleinkrämer, der freiheitsliebende Nationalstaaten als weltanschaulichen Anachronismus empfindet und dem gesamten Abendland die saure Milch der doktrinären Denkungsart andrehen möchte. Außenpolitische Vorteile, die den Demokratieverzicht in einem „Bundesstaat Europa“ annähernd wettmachen könnten, gibt es nicht. Insbesondere ist Deutschlands militärstrategisches Kernziel, die Schaffung supranationaler Verteidigungsstrukturen, in Gestalt der Nato längst verwirklicht. Eine darüber hinausgehende EU-Integration bei der äußeren Sicherheit dürfte auch weiterhin an den Präferenzen Frankreichs und Großbritanniens scheitern. Frankreich beharrt auf autonomer Außen- und Verteidigungspolitik bei gleichzeitiger Bewahrung seiner Einflußsphären im nordafrikanischen Raum und das Vereinigte Königreich auf der unsterblichen „Achse der Dankbarkeit“ zwischen Washington und London. Roosevelt und Churchill lieferten auch im Irak die Blaupause für ihre Amtsnachfolger. Im übrigen: Verknüpfen London, Paris und der gesamte „Club Méditerranée“ mit dem Europa-Gedanken nicht eher den Wunsch nach wirtschaftlicher Ausbeutung als nach politischer oder gar militärischer Machtbeteiligung Deutschlands? Nicht beseitigen könnte ein Bundesstaat Europa auch die große wirtschaftliche und militärische Abhängigkeit der Alten von der Neuen Welt. Sie wird um so dramatischer, je weiter die USA und Europa in der Nahostpolitik auseinanderdriften. Auch noch so kreative Deutungen der Barbarei des 11. September 2001 als Indikator des Nato-Bündnisfalls und Anschlag auf die „gemeinsame atlantische Wertordnung“ können nicht verschleiern, daß der Terror zuallererst der Schiene New York/Tel Aviv sowie kultur- und wirtschaftspolitischen US-Strategien in der islamischen Welt gegolten hat. Wie brüchig die These von den gemeinsamen Werten der Alten und Neuen Welt ist, dokumentieren der völkerrechtswidrige Angriff auf den Irak und die Abneigung der USA gegen den Internationalen Strafgerichtshof. Wie brüchig die These von den gemeinsamen Werten ist, dokumentieren der völkerrechtswidrige Irak-Angriff sowie die US-amerikanische Abneigung gegen den Internationalen Strafgerichtshof. Auch aufklärungsfeindliche „Robustheiten“ des amerikanischen Rechts offenbaren Wertdivergenzen zu Europa. Das betrifft etwa die Inhaftierung eines elfjährigen Schweizer Knaben nach „Doktorspielen“ mit der kleinen Schwester und Gruseligkeiten im Strafrecht mehrerer US-Bundesstaaten. Erwähnt sei das „three-strikes law“ mit der Konsequenz einer langjährigen, meist sogar lebenslänglichen Haft für eine gewalttätige oder schwerwiegende Straftat, wenn zwei vergleichbare Delikte vorausgegangen sind. „Schwerwiegend“ sind nach US-amerikanischem Verständnis in der Regel Eigentumsdelikte; das „three-strikes law“ kam bereits beim Diebstahl eines Reifens aus einem Auto zur Anwendung. Klarsichtig buchstabiert der langjährige SPD-Bundestagsabgeordnete und Militärexperte Andreas von Bülow (Staatssekretär im Verteidigungsministerium von 1976 bis 1980): „Deutschland muß im Verband mit den europäischen Völkern eine gewisse Emanzi-pationsleistung erbringen. Amerika hat klare eigene wirtschaftliche und politische Interessen, die es knallhart und zum Teil völkerrechtswidrig durchsetzt, und wacht darüber, daß ihm in Europa kein Konkurrent erwächst. Wir Deutschen dürfen vor lauter Dankbarkeit nicht das Denken sein lassen.“ Davon abgesehen: Welche Mißstände könnte eine europäische Föderation effektiver bekämpfen als die ohnehin durch einen Wust von EU-Vorschriften miteinander verklammerten Nationalstaaten der Gegenwart? Etwa die horrende Arbeitslosigkeit in Teilen des europäischen Binnenmarktes oder die fortschreitende Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen oder gar den weltweit steigenden Migrationsdruck? Die Erfahrungen mit der Brüsseler Bürokratie und ihrer naiven, ungezügelten Sehnsucht nach Multikultur mahnen zu größter Zurückhaltung. Joseph Fischer müßte wieder in seinem reichlich verstaubten Hegel blättern, den er nach eigenem Bekunden 1968 „wie ein Ochse“ verschlungen hat. „So soll denn diese Abhandlung“, heißt es in den „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ (1821), „nichts anderes sein als der Versuch, den Staat als ein in sich Vernünftiges zu begreifen und darzustellen. Als philosophische Schrift muß sie am entferntesten davon sein, einen Staat, wie er sein soll, konstruieren zu sollen; die Belehrung, die in ihr liegen kann, kann nicht darauf gehen, den Staat zu belehren, wie er sein soll, sondern vielmehr, wie er, das sittliche Universum, erkannt werden soll.“ Und an anderer Stelle: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.“ Diese Passagen, im historischen Kontext Legitimationserklärung für das real existierende Preußen und Warnung vor allzu freiheitlichen Staatsideen, sind einer Neuinterpretation im Sinne aktueller politischer Aufklärung zugänglich. Sie mahnen dann etwa vor demokratiefeindlichen Zündeleien mit einer supranationalen Föderation. Verabschieden wir uns von dem zwanghaften Mythos, die europäische Integration bis zum Gehtnichtmehr vertiefen zu müssen! Befördern wir Fischers „Bundesstaat Europa“ in den Papierkorb neuzeitlicher Ideengeschichte! Anstelle dieses Modells brauchen wir eine plebiszitäre Runderneuerung des deutschen Rechtssystems, um mit den Instrumenten Volksentscheid, -begehren und -befragung eine abgestufte Mitwirkung aller Deutschen an politisch brisanten Gesetzen und allen nationalen Schicksalsfragen zu erreichen. Dr. Björn Schumacher ist Jurist. In der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über die alliierten Bombenangriffe auf militärisch unbedeutende deutsche Städte in den letzten Monaten des Zweiten Weltkrieges (JF 11/05), Feiern zur EU-Erweiterung in Frankfurt/Oder (2004): „Verabschieden wir uns von dem zwanghaften Mythos, die europäische Integration bis zum Gehtnichtmehr vertiefen zu müssen!“
- Deutschland