Also Neuwahlen. Bundespräsident Horst Köhler hat dem Druck aller Fraktionen nachgegeben und Kanzler Gerhard Schröders Antrag auf Auflösung des Bundestages entsprochen. Das Bundesverfassungsgericht dürfte sich dem Präsidenten und dem Kanzler anschließen. Damit dürften am 18. September sieben Jahre Rot-Grün zu Ende gehen. Was danach kommt, ist noch völlig ungewiß. Frühe Hochs der Union in Meinungsumfragen haben sich bereits verflüchtigt. Nur eines ist sicher: Die Krise bleibt. Die Parteien versprechen in ihren Programmen den Bürgern bestenfalls Reförmchen. Statt Rezepte zur Überwindung der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise zu erarbeiten, diskutieren sie lieber über die möglichen Koalitions-Koalitionen nach der Wahl. Köhlers Ja zur Auflösung des Bundestages dürfte das einzige sein, was im Gedächtnis der Bürger noch hängenbleibt. Dabei hatte der gehetzt und nervös wirkende Präsident wichtige Botschaften in seine Rede an die Nation gepackt: „Unsere Zukunft und die unserer Kinder steht auf dem Spiel. Millionen von Menschen sind arbeitslos, viele schon seit Jahren. Die Haushalte des Bundes und der Länder sind in einer nie dagewesenen kritischen Lage.“ Es gebe zu wenig Kinder, und die Gesellschaft werde immer älter, so der Präsident. Die Parteien quittierten die Rede nicht weiter. Schröder und Unions-Kanzlerkandidatin Angela Merkel bekundeten dem Präsidenten ihren Respekt, und das war es dann auch. Beide sehen sich ihrem Ziel näher. Merkel will ihren Traum, ins Berliner Kanzleramt einzuziehen, ein Jahr früher als geplant verwirklichen. Schröder, der alte Spieler, will die Macht auf jeden Fall behalten. Grüne und FDP hoffen auf ein besseres Ergebnis als vor drei Jahren, und die große Unbekannte in dem Spiel ist die zur Linkspartei mutierte PDS, die sich mit den SPD-Absplitterern von der WASG zusammengeschlossen hat. Wer glaubt, Schröder hätte schon aufgegeben, kennt diesen Kanzler nicht. Keiner versteht sich auf das politische Spiel wie der Mann aus Hannover. Merkel hat jetzt schon schlaflose Nächte, wenn sie daran denkt, gegen Schröder im Fernsehen antreten zu müssen. Schon heißt es im Berliner Konrad-Adenauer-Haus, wegen der Kürze des Wahlkampfes könne sich die Kanzlerkandidatin auf höchstens ein Duell mit Schröder einlassen. Der will zwei Duelle. Im Schauspielern und beim Bau von Luftschlössern ist Schröder ein unübertroffener Meister. Gut möglich ist auch, daß der Kanzler glaubt, noch einen Trumpf im Ärmel zu haben, mit dem er die innenpolitische Debatte zu seinen Gunsten drehen kann. Spekulationen darüber, was das für ein Trumpf sein könnte, sind allerdings müßig. Eine Anti-Kriegs-Debatte wie im Wahlkampf 2002 scheidet jedenfalls aus. Die Weltmacht USA ist im Irak beschäftigt und denkt nicht daran, sich in ein neues militärisches Abenteuer zu stürzen. Auch ein Hochwasser, das Schröder 2002 begnadet zur Selbstdarstellung nutzte, während der damalige Kanzlerkandidat Edmund Stoiber Sommerurlaub machte, kommt nicht auf Bestellung. Sollte Schröders Rechnung nicht aufgehen und das As im Ärmel für den entscheidenden Stich nicht reichen, haben der Kanzler und die SPD ein Problem. Wenn sich die SPD in den Umfragen bis zum Wahltag nicht deutlich erholt, würde zur Bildung einer linken Regierung in Berlin zwingend das Linksbündnis gebraucht. Daß Schröder und sein alter Intimfeind Oskar Lafontaine wieder in einer Regierung sitzen, ist völlig ausgeschlossen. Zwischen den beiden ist das Tischtuch zerschnitten. Für diesen Fall, so heißt es in den in Berlin kursierenden Gerüchten, würde SPD-Chef Franz Müntefering alles auf eine Karte setzen. Schröder würde sich Ende August auf dem SPD-Parteitag verabschieden. Und wie das Kaninchen aus dem Hut gezaubert wird, würde Müntefering einen neuen und jungen SPD-Kanzlerkandidaten präsentieren: den ehemaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Sigmar Gabriel. Der ist jünger als Merkel, gilt als unverbraucht und könnte sich vor allem an die Spitze einer Dreier-Koalition aus SPD, Linksbündnis und den Grünen setzen. Die Dementis aus der SPD dürften die Haltbarkeit eines Bechers Joghurt haben. Ausgerechnet Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit sprach der Linkspartei, mit der er im Roten Rathaus koaliert, jede Regierungsfähigkeit ab. Andere SPD-Politiker wie der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Michael Müller sagten, eine Koalition mit der Linkspartei würde die SPD zerreißen. Man kann sicher sein: Wenn das Ergebnis für die drei Parteien des linken Lagers am Wahlabend reichen sollte, werden die Karten neu gemischt. Auf solche Szenarien sind Merkel und die Unionsparteien nicht eingestellt. Die Kanzlerkandidatin wird zunehmend nervöser. Das Polster der guten Umfragewerte schwindet. Das Wahlprogramm ist zwar mit der Ankündigung einer Mehrwertsteuererhöhung recht ehrlich, erinnert aber im großen und ganzen an die Handlungsanleitung für eine „Weiter so“-Regierung, die nur an einigen Stellschrauben drehen will, aber nicht das Ruder herumreißen kann. Hinzu kommt eine unerklärliche Schwäche des potentiellen Koalitionspartners FDP, der seltsam konturenlos erscheint. Ein massives Problem hat die Union in den neuen Bundesländern. Die Linkspartei hat sie in den Umfragen überholt und könnte sogar stärkste Kraft werden. Die Partei von Lothar Bisky und Gregor Gysi hat es geschafft, zum Sammelbecken der Unzufriedenen zu werden, die sonst eventuell zur CDU gewechselt wären. Fünfzehn Jahre nach dem Ende der DDR steht die Partei der früheren SED-Herrscher wieder an erster Stelle. Im Westen scheint nur der überwiegend katholische Süden gegen die Linkspartei resistent zu sein. In Bayern liegt sie bei nur drei Prozent, die CSU bei unerklärlichen 63 Prozent. Wenn es am Wahltag für Union und FDP nicht reichen sollte, kann Merkel allenfalls noch versuchen, der SPD eine Große Koalition anzubieten. Sollte die SPD aber ein rot-rot-grünes Bündnis hinkriegen, platzt der Traum einer Kanzlerkandidatin von der Macht wie eine Seifenblase. Die CDU würde dadurch in eine tiefe Krise gestürzt. Nichts ist schlimmer als enttäuschte Hoffnungen auf Regierungsbildung und schöne Kabinettsposten. Die CDU stand, was von den meisten Beobachtern vergessen worden ist, bereits während Kohls Spendenaffäre kurz vor der Spaltung. In anderen europäischen Ländern haben sich die bürgerlichen Lager erst zerlegt und dann neu formiert, wobei auch konservative Parteien entstanden. Warum sollte dies in Deutschland nicht passieren?