HANAU. Deutschland hat eine mutmaßliche Bluttat aus der afghanischen Provinz Kandahar zur Anklage gebracht. Ab dem 17. Juli muß sich ein 69jähriger Afghane vor dem Landgericht Hanau für einen Mord, der vor zehn Jahren 6.000 Kilometer entfernt begangenen worden sein soll, verantworten.
Dem Afghanen wird vorgeworfen, im Oktober 2015 seinen eigenen Bruder mit einem Kopfschuß aus einem Schrotgewehr getötet zu haben. Die Hanauer Staatsanwaltschaft sieht die Mordmerkmale Heimtücke und niedrige Beweggründe als erfüllt an.
Der Angeklagte bestreitet die Tat. Zum Zeitpunkt des Mordes lebte er noch in Afghanistan, später siedelte er nach Deutschland über und wohnte zuletzt in Hanau. Eine Anzeige, die hierzulande einging, brachte die Ermittler auf seine Spur. Ein Jahr später folgte die Festnahme, inzwischen sitzt er in Untersuchungshaft.
Prozeß wegen Tat in Afghanistan, trotz Gerichten am Limit
Der ungewöhnliche Prozeß wird möglich durch eine Ausnahmeregelung im deutschen Strafgesetzbuch. Normalerweise sind für Straftaten die Gerichte des Tatortes zuständig – doch seit der Machtübernahme der Taliban gibt es keine funktionierende Rechtshilfe mehr zwischen Deutschland und Afghanistan.
Deshalb greift hier das Prinzip der sogenannten „stellvertretenden Strafrechtspflege“, wie Staatsanwältin Lisa Urff erläuterte. Diese erlaubt es deutschen Gerichten, in Ausnahmefällen für Taten im Ausland Gerichtsbarkeit zu übernehmen – auch wenn weder Opfer noch Täter Deutsche sind. Ein Augenzeuge, der sich ebenfalls in Deutschland aufhält, soll die Tat beobachtet haben und vor Gericht aussagen.
Während in deutschen Gerichtssälen mittlerweile sogar Tötungsdelikte aus islamischen Stammesgesellschaften verhandelt werden, wächst der Druck auf die Justiz im Inland. Nach Angaben des Deutschen Richterbundes aus dem März gab es im Jahr 2024 bundesweit rund 933.000 unerledigte Verfahren – ein Anstieg um fast 30 Prozent gegenüber 2021. Auch 2023 waren bereits mehr als 900.000 Fälle offen geblieben. (rr)