BERLIN. Die frühere deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat in einem Interview mit dem ungarischen Online-Medium Partizan eine bemerkenswerte Spekulation über den Ukraine-Krieg angestellt. Sie stellte dabei die Frage, ob Wladimir Putin die Ukraine überhaupt angegriffen hätte, wenn es die Corona-Pandemie nicht gegeben hätte.
„Hätte Putin die Ukraine überfallen, wenn es Corona nicht gegeben hätte?“, fragt Merkel und verweist für die Antwort auf ihr Buch. Dort schreibe sie, daß diese Frage niemand sicher beantworten könne. Klar sei: „Die Pandemie hat die Weltpolitik verändert. Wir konnten uns nicht mehr treffen, nicht mehr direkt miteinander reden – das hat vieles unmöglich gemacht.“
Die frühere Kanzlerin führte aus, daß die weltweiten Lockdowns und Kontaktbeschränkungen auch das diplomatische Gleichgewicht erschüttert hätten. „Wenn man sich nicht mehr von Angesicht zu Angesicht austauschen kann, lassen sich Meinungsverschiedenheiten schwerer überwinden. Dann kann man auch keine neuen Kompromisse schließen.“
Sie erinnerte daran, daß Putin im Jahr 2021 nicht einmal am G20-Gipfel teilgenommen habe – aus Angst vor einer Corona-Infektion. Diese Selbstisolation, so Merkel, habe den russischen Präsidenten von direkter politischer Kommunikation weitgehend abgeschnitten. „Wenn man sich nicht mehr sieht, verliert man auch die Möglichkeit, Vertrauen aufzubauen oder Spannungen abzubauen.“
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Orbán glaubt, Putin hätte sich das unter Merkel nicht getraut
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán hatte zuvor erklärt, Putin hätte die Ukraine nicht angegriffen, wenn Merkel noch Kanzlerin gewesen wäre. Bei einem Treffen mit Orbán am Tag des Interviews sei das Thema ebenfalls zur Sprache gekommen, berichtete sie – ohne Details preiszugeben. „Was wir miteinander besprechen, bleibt vertraulich“, sagte Merkel.
Die Altkanzlerin verteidigte in dem Gespräch auch das sogenannte Minsker Abkommen von 2015. Dabei handelte es sich um eine in der weißrussischen Hauptstadt Minsk geschlossene Vereinbarung zwischen der Ukraine, Rußland, Deutschland und Frankreich, die eine Waffenruhe und einen Fahrplan für eine politische Lösung des Konflikts im Donbass vorsah.
„Es war alles andere als perfekt, Rußland hielt sich nie wirklich daran, aber es hat die Lage gedämpft und der Ukraine Zeit gegeben, ihre Verteidigung zu stärken“, sagte Merkel. Gemeinsam mit dem damaligen französischen Präsidenten François Hollande habe sie versucht, eine militärische Eskalation zu verhindern.
Zugleich räumte sie ein, Deutschland habe die Erhöhung seiner Verteidigungsausgaben zu langsam vorangetrieben. „Das muß jetzt nachgeholt werden“, sagte sie. Der damalige Beschluß, binnen zehn Jahren zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben, sei richtig gewesen – aber die Umsetzung habe sich zu sehr verzögert.
Gescheiterte Verhandlungen mit Putin
Im Gespräch mit Partizan sprach Merkel auch über ihren letzten Versuch, im Sommer 2021 ein neues Gesprächsformat mit dem Kreml zu schaffen. Gemeinsam mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron habe sie vorgeschlagen, daß die Europäische Union direkt mit Putin verhandeln sollte. „Ich hatte das Gefühl, daß Putin Minsk nicht mehr ernst nahm“, sagte sie.
Der Vorschlag sei jedoch am Widerstand mehrerer EU-Staaten gescheitert. „Einige unterstützten es nicht, vor allem die baltischen Staaten, aber auch Polen“, so Merkel. Diese Länder hätten befürchtet, daß der Westen gegenüber Moskau zu nachgiebig sein könnte. „Ich war der Meinung, wir müssen eine gemeinsame europäische Linie finden“, betonte sie.
Das sei nicht gelungen – kurz darauf habe sie ihr Amt niedergelegt, und wenige Monate später habe Putin die Ukraine angegriffen. „Was geworden wäre, wenn wir das Gesprächsformat damals zustande gebracht hätten, weiß heute niemand.“ Zugleich betonte sie, die Verantwortung für den Krieg liege eindeutig bei Moskau. „Fakt ist: Putin hat die Ukraine angegriffen, und das hat unsere Lage in Europa und in der Welt verändert.“