Alles war perfekt vorbereitet. Das Hotel am Stadtrand von Bremen war festlich geschmückt. Personenschützer und Hundeführer patrouillierten rund um das Objekt. Die über 200 Gäste waren teilweise von weit her angereist und warteten in der Halle.
Dann betraten Jörg Haider und Joachim Siegerist unter dem Jubel der Anwesenden den Saal. Nach Siegerist hielt der Kärntner Landeshauptmann seine Rede. Er war der Stargast. Und er hatte sich gut vorbereitet, war bestens über die politischen Verhältnisse im kleinsten Bundesland informiert. Er sprach über problematische Zuwanderer und roten Filz. Die Zuhörer waren begeistert.
Joachim Siegerist war außer sich vor Freude. Der gelungene Auftritt des früheren FPÖ-Chefs sollte ihm Rückenwind geben für die Wahl zur Bremer Bürgerschaft im Mai 2007, bei der er mit seiner neuen Formation „Bremen muss leben“ antrat.
Siegerist erlebte Höhen und Tiefen
„Erstmals seit Jahrzehnten steht eine konservative Partei in Deutschland vor dem Einzug in ein Landesparlament“, hatte er Haider eine Woche zuvor per Fax mitgeteilt, als dieser in Kärnten wegen des geplanten Auftritts bei „dem deutschen Rechtsextremisten Siegerist“ unter Beschuß der dortigen Mainstreammedien geraten war.
Doch die Bürgerschaftswahl endete mit einer Niederlage: Mit nur 1,6 Prozent blieb die Wählervereinigung weit hinter ihren Erwartungen zurück. Das Projekt wurde abgewickelt. Das Scheitern bei dieser Landtagswahl war nicht der einzige Rückschlag im Leben des Joachim Siegerist. Aber das machte ihm nichts. Er steckte so etwas weg und wandte sich dem nächsten Projekt zu. Er war ein Stehaufmännchen.
Siegerist, 1947 in Schleswig-Holstein als Sohn eines lettischen Soldaten und einer Deutschen geboren, hat viele Höhen und Tiefen gesehen. Er wuchs mit seinen Geschwistern bei seiner alleinerziehenden Mutter auf. Nach der Schule begann er eine Setzerlehre beim Weserkurier. Bei der Bundeswehr durfte er eine Truppenzeitung gestalten. Und danach heuerte er als Journalist an, wurde schließlich Redaktionsleiter von Bild Bremen, später Chefreporter der Hörzu.
Siegerist hatte keinen Respekt vor „großen Tieren“
Der Verleger Axel Springer schickte ihn als Wahlkampfhelfer zur CDU/CSU. Siegerist berichtete später bis zu 150 Kandidaten bei ihren Wahlkämpfen geholfen zu haben, darunter Persönlichkeiten wie Alfred Dregger, Franz Josef Strauß oder Uwe Barschel. Viele persönlich zugeschnittene Wahlkampfzeitungen hatte er zu verantworten. „Auf Kriegsfuß stand ich mit denen, die von der Politik lebten, keinen Beruf oder kein Studium hatten und alle möglichen Purzelbäume unternehmen mußten, um an der Futterkrippe zu bleiben“, schrieb er später über diese Zeit.
Joachim Siegerist („Ich kenne Politiker, die sind wie Straßen-Dirnen“) war respektlos gegenüber „großen Tieren“. Einmal hatte sich ein Datenschützer eines Bundeslandes aufgrund von unzutreffenden Vorwürfen an ihn gewandt und ihm um Stellungnahme gebeten. Siegerist reagierte gepfeffert, schrieb dem Mann, daß an den Vorwürfen nichts dran sein. (Soweit, so gut.) Dann fügte er hinzu: „Vorauseilender Gehorsam und wichtigtuerische Geschwätzigkeit beschädigen das Ansehen Ihres Amtes.“
Einem Journalisten, der einen unfreundlichen Artikel über ihn verfaßt hatte, riet er zum Berufswechsel, weil er nicht recherchieren könne. Falls er „Geisterstimmen“ höre, solle er sich einen besseren Arzt suchen. Mit solchen Briefwechseln, die er auch Wegbegleitern in Kopie zuschickte, machte er sich natürlich nicht nur Freunde.
Siegerist war ein Helfer
Auf der anderen Seite war Siegerist um so zuvorkommender und verständnisvoller gegenüber sogenannten „kleinen Leuten“. Er betonte gerne, daß er als Rechter daran arbeiten müsse, als „sozial“ wahrgenommen zu werden, weil die politische Linke Leute wie ihn gerne als hartherzig diffamiere.
Aber diese Einstellung folgte nicht nur taktischen Überlegungen. Anderen helfen zu wollen, lag in seiner Natur. Wenn er jemanden in Not sah, dann konnte er nicht anders, als Hilfe anzubieten. Er tat dies auch, wenn niemand zusah oder wenn es ausgeschlossen war, daß er hinterher darüber würde berichten können.
Einmal erschien vor seinem Büro ein leicht desorientiert wirkender Schwarzafrikaner, der nach dem Weg fragte. Siegerist schilderte ihm, wo lang er gehen müsse. Als der Mann sich schon umdrehen und lostrotten wollte, zückte Joachim einen blauen Zwanziger und steckte ihn dem Fußgänger zu. „Kauf dir was Ordentliches zu essen“, sagte er zum Abschied.
Siegerist reüssierte als Buchautor
Die Konflikte, die er im Laufe der Jahre ausgetragen hatte und seine politische Einstellung, machten es seinen Gegnern jedoch leicht, ein Zerrbild von ihm zu erstellen, das von Verfassungsschutzberichten bis hin zu seinem Bolschewikipedia-Eintrag reicht. Demnach war Joachim Siegerist ein rassistischer, rechtsradikaler Volksverhetzer, der gutgläubige Bürger um ihre Spendenbeträge brachte. Doch das ist weiter von der Wahrheit entfernt als Christine Lambrecht von einer gelungenen Silvester-Videobotschaft.
Er war ein Verleger mit Herz und Verstand, der seit seinem unfreiwilligen Ausscheiden aus der CDU 1987 immer auf eine neue Partei rechts der Union hingearbeitet hat. Er hatte auch den Springer-Verlag verlassen und sein eigenes kleines Imperium gegründet. Im Zentrum stand der 1986 gegründete Verein „Die Deutschen Konservativen“. Der frühere Berliner Innensenator Heinrich Lummer fungierte bis zu seinem Tod 2019 als Ehrenpräsident des Vereins.
Zudem gelangen Siegerist mehrere erfolgreiche Buchveröffentlichungen wie „Brandt ohne Maske“ (1989) und „Ceausescu, der rote Vampir“ (1990), mit denen er sich einen Namen machte und die Adressen von Unterstützern einsammelte.
Erzählungen über Stalinzeit prägten Siegerist
Sein größter politischer Coup gelang ihm nach der Wende. Siegerist erhielt die lettische Staatsangehörigkeit und mischte auch in der Politik in Riga mit. 1993 wurde er ins lettische Parlament gewählt. 1995 wäre es ihm beinahe gelungen, an der Spitze der zweitstärksten Partei zum stellvertretenden Ministerpräsidenten des Landes aufzusteigen. Zeitlebens verdächtigte er die deutsche Bundesregierung, seine Bemühungen hintertrieben zu haben. 50.000 Mark seien geflossen, um einen Abgeordneten seiner Koalition umzudrehen, war er fest übezeugt.
Auch nach diesem Ausflug in die lettische Politik spielte Lettland für ihn eine große Rolle. Siegerists Vater hatte in der Waffen-SS gedient und war in der Nachkriegszeit weiter nach England gezogen. Joachim Siegerist, selbst kinderlos, bemühte sich die über mehrere Länder verstreute Familie zusammenzuführen. Er hatte seine lettischen Familienangehörigen gesucht. Die Schilderungen über die Unterdrückung in der Stalinzeit haben ihn sehr geprägt.
Siegerist kaufte ein Landhaus in der Provinz außerhalb Rigas und errichtete dort eine Versöhnungskapelle. Er unterstützte die lokale Bevölkerung. Regelmäßig gingen noch lange nach dem EU-Beitritt des Landes Hilfslieferungen aus Siegerists Hamburger Büro nach Osten, die dort an Bedürftige verteilt wurden.
Siegerist erfüllte seine Mission
Nach der Kandidatur in Bremen konzentrierte sich Siegerist auf seine sozialen Themen. Ob Deutsche in Siebenbürgen oder Südwestafrika – es gab viele Hilfsprojekte, die Siegerist anleierte. Er erzählte immer wieder, wie Boxlegende Max Schmeling ihm seinerzeit die erste Spende für seinen Verein „Aktion Reiskorn“ gegeben hatte.
Überhaupt begannen nun viele Sätze in seinem Barmbeker Büro oder im Freundeskreis mit „Weißt du noch damals…?“ In den letzten zehn Jahren war er krank. 2021 sprach er erstmals offen darüber, wie die Parkinsonkrankheit ihn beeinträchtigt. Der stets gut gelaunte Mann konnte nicht mehr wie gewohnt lachen. Lange Reisen – er liebte es, sich für Wochen mit Sack und Pack nach Thailand begeben, um Bücher zu schreiben – waren nicht mehr drin.
Aber auch wenn seine Hand zuweilen zitterte, so war er bis zum letzten Tag klar im Kopf. Am 27. Januar schrieb er einen letzten Brief und verließ das Büro. Für immer. Am 28. Januar, einen Tag vor seinem 76. Geburtstag, starb Joachim Siegerist in seiner Hamburger Wohnung.
Mit ihm verliert Deutschland einen unbequemen konservativen Journalisten, der überzeugter Antikommunist und gleichzeitig sozial engagiert war. Seine jahrelangen Bemühungen um die Gründung einer seriösen Partei rechts der Union waren nicht von Erfolg gekrönt. Und doch haben Männer wie er den Weg geebnet für die inzwischen eingetretene Normalisierung unseres Parteiensystems. Mission erfüllt – ruhe in Frieden, Joachim Siegerist.