ZÜRICH. Scharfe Kritik am Gutachten über die Wirksamkeit der Corona-Maßnahmen hat der Virologe Klaus Stöhr geäußert. So hätte die Übersterblichkeit dort hineingehört. Sie war in Deutschland höher als in Ländern mit so gut wie keinen Einschränkungen. Dies sei wegen „einiger selektiver Literaturentscheidungen, die ich nicht nachvollziehen konnte“, geschehen, sagte Stöhr der Neuen Zürcher Zeitung.
In Deutschland, das über zwei Jahre ein hartes Corona-Regime etabliert hatte, lag die Übersterblichkeit laut Schätzung der WHO bei 73 auf 100.000 Einwohner. In Schweden, das praktisch keinerlei Einschränkungen eingeführt hatte, betrug sie 66. Auch die Schweiz (47) und Dänemark (32), wo die Maßnahmen viele Monate früher beendet worden waren, weisen deutlich geringere Werte auf.
Studien „bewußt ausgespart“
Stöhr, der dem Sachverständigenrat seit Mitte April angehörte, habe nach eigenen Worten nicht mehr viel Einfluß auf die Evaluierung nehmen können. Der 63jährige, der von der CDU/CSU-Fraktion als Nachfolger von Christian Drosten benannt worden war, bemängelt auch, daß „der Bericht eines international und hochkarätig besetzten Expertenkomitees der WHO“ fehle. Außerdem seien Studien zu den Schulschließungen aus Hessen und Rheinland-Pfalz „offensichtlich bewußt ausgespart“ worden.
Dies sei mit der Begründung geschehen, daß sie in „Journalen ‚geringeren Ranges‘ publiziert wurden oder nur als Preprint vorlagen“. Stöhr, der mehrere Jahre die Sars-Forschung bei der WHO leitete, sieht das als groben Fehler. Denn die Studien stammten „von renommierten Fachkollegen mit mehr als 30jähriger Berufserfahrung und bekannten wissenschaftlichen Aktivitäten über mehrere Jahrzehnte“. Das könne man nicht so einfach weglassen, „zumal Studien aus England und Finnland die Befunde bestätigen“.
„Dafür brauchen wir keinen Sachverständigenrat“
Stöhr hatte gehofft, „daß man bei der Bewertung der Maßnahmen viel konsequenter ist und deutlichere Empfehlungen ausspricht“. Dies hätte der Sachverständigenrat bei den Schul- sowie den Grenzschließungen oder der Teststrategie tun müssen. „Stattdessen steht im Gutachten, daß FFP2-Masken nur schützen, wenn sie richtig und in der richtigen Größe getragen werden. Das ist Basiswissen, dafür brauchen wir keinen Sachverständigenrat, der sich acht Monate lang berät.“
Auch die Passagen, daß es physikalisch und biologisch plausibel sei, daß eine Reduktion der Kontakte zu weniger Infektionen führe, sei eine Binsenweisheit. Denn ohne direkte oder indirekte Kontakte zwischen Menschen gäbe es keine Infektionserkrankungen: Entscheidend sei vielmehr, „in welchem Grad Kontaktreduktionen wirken und mit welchen ‚Nebenwirkungen‘“. Anders lasse sich die Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen nicht einschätzen.
Nur geringfügige Eingriffe ins gesellschaftliche Leben nötig
Aus Stöhrs Sicht sei der Ansatz des Gutachtens falsch gewesen. Ihn habe „erstaunt“, daß man bei der Evaluierung „nicht kritisch nach hinten schauen wolle, sondern positiv-konstruktiv nach vorn“. Er bezweifelt, ob dies bei einer Evaluierung gehe: „Ohne einen prüfenden Blick nach hinten ist das meines Erachtens gar nicht möglich.“
Nun könne sich aus der Evaluierung „jeder das herauslesen, was er möchte“. Einige könnten mit Verweis auf den Bericht „weiterhin auf Zero Covid pochen“, und andere könnten sich darin bestätigt fühlen, daß „die Maßnahmen zu hart“ waren.
Stöhr empfiehlt für den Herbst, mit den mildesten Kontaktreduktionen, also Masken, zu beginnen, „wenn zum Beispiel die Hospitalisierungen und die Einweisungen auf die Intensivstationen einen bestimmten Wert überschreiten“. Verschlimmere sich die Situation in den Krankenhäusern, „könnte unter Umständen auch eine Home-Office-Empfehlung sinnvoll sein“.
Der Virologe: „Ich gehe allerdings davon aus, daß nach einer guten Impfkampagne bei den über 60jährigen und anderen Vulnerablen im Herbst nur relativ geringfügige Eingriffe in das gesellschaftliche Leben notwendig sein werden.“ (fh)