Anzeige
Anzeige

Krieg in der Ukraine: Ein Kampf um die Deutungshoheit

Krieg in der Ukraine: Ein Kampf um die Deutungshoheit

Krieg in der Ukraine: Ein Kampf um die Deutungshoheit

Das Brandenburger Tor in den ukrainischen Farben
Das Brandenburger Tor in den ukrainischen Farben
Das Brandenburger Tor in den ukrainischen Farben Foto: Martina Meckelein
Krieg in der Ukraine
 

Ein Kampf um die Deutungshoheit

Am 24. Februar begann der russische Angriff auf die Ukraine. Wie erleben die Menschen in Deutschland die Ereignisse? Hunderttausende demonstrieren und solidarisieren sich mit der Ukraine. Was treibt sie auf die Straße? Welche Ängste haben sie? Welche Forderungen stellen sie?
Anzeige

Die Sonne ist untergegangen. Die Kälte schneidet ins Gesicht. Der schwarze Himmel wölbt sich über dem Pariser Platz. Es ist still, wie in einer Kirche. Plötzlich brandet ein Klatschen auf. Das Brandenburger Tor erstrahlt in blau und gelb – die Nationalfarben der Ukraine. So wie die Fahnen, die viele Demonstranten schwenken. Am Donnerstag, den 24. Februar, dem ersten Tag der Invasion, versammelten sich rund 1.500 Menschen im Herzen Berlins. Junge und Alte, mehr Frauen als Männer. In den nächsten Tagen werden es Hunderttausende sein. Sie haben Angst, Todesangst um ihre Liebsten daheim. In der Ukraine fallen die Bomben. Es ist nur noch eine Frage von Stunden oder Tagen bis Kiew, Odessa oder womöglich Lemberg fallen. Doch dieser Krieg zeigt auch, wie Propaganda wirkt – auf allen Seiten. Und wie groß die Gefahr wird, daß wir uns in Deutschland unversöhnlich gegenüberstehen.

„Hier, schauen Sie“, sagt Danyana Tsomenko und zeigt ihr Handy. „Das ist nicht irgendein von Telegram runtergeladener Film, das ist mein Cousin in Petersburg. Er wurde heute Vormittag verhaftet.“ Auf dem Video sieht man einen jungen Mann, der ein Schild hochhält auf dem steht: „Ich fordere mit dem Krieg aufzuhören.“ Neben der jungen Frau steht aufgelöst ihre Mutter Tatjana Thiele. „Die Situation in der Ukraine ist schlimm, Putin ist ein Biest“, sagt sie und zieht die Ukrainische Flagge sich enger um die Schultern. „Das schlimme ist, daß er Zugang zu den atomaren Waffen hat. Ich sehe eine Kriegsgefahr für ganz Europa. Putin wird ins Baltikum einmarschieren.“

Tatjana Thiele und ihre Tochter Danyna Tsomenko Foto: Martina Meckelein

Dort auf dem Pariser Platz hat fast jeder ein Handy und auch fast jeder schaut immer wieder rein, wenn er nicht gerade ein kurzes Video filmt, um es als hoffnungsvollen Gruß in die Heimat zu schicken: Wir denken an Euch. Das Handy ist auch die Nachrichtenzentrale. Wo stehen die Truppen? „Kiew ist umzingelt, Putin plant die gesamte Ukraine von außen nach innen zu attackieren“, sagt Tatjana Thiele. Ihre Familie wohnt in Kiew in einem Hochhaus im 10. Stock. „Meine Mutter will da raus. Solch ein exponiertes Haus ist gefährdet durch die Luftangriffe.“

„Putin hat mentale Probleme, er ist nicht zivilisiert“

Ein paar Meter weiter steht ein junger Mann, Anfang dreißig, in Daunenjacke und mit schwarzer Mütze auf dem Kopf, auch er hat eine Ukrainefahne um die Schultern gelegt. Er spricht ein hervorragendes Englisch. „Ich habe nicht in Betracht gezogen, daß es heutzutage, wo es genug Essen und Trinken gibt, zu einem Krieg wie im Mittelalter kommt.“ Ist es die eisige Kälte und der scharfe Wind, oder das ungewisse Schicksal seines Landes? Die Augen des Mannes scheinen zu schwimmen, äußerlich bleibt er ganz ruhig. „Meine Familie ist in der Ukraine. Der Mann meiner Schwägerin ist Soldat. Freunde von mir melden sich gerade zum Militär und werden kämpfen sobald sie ihre Familien evakuiert haben.“

Er verstehe, daß Europa und Nordamerika nicht kämpfen wollen. „Mit Waffen kämpft die Ukraine, Europa aber kann mit Sanktionen kämpfen. Sie müssen die Wirtschaft angreifen! Putin hat mentale Probleme, er ist nicht zivilisiert. Ein Freund von mir guckt russisches Fernsehen, da wird kein Wort über den Krieg verloren! Alles wäre in Ordnung, nur ein Militäreinsatz. Währenddessen hat die russische Armee einen Flughafen, 15 Kilometer von Kiew entfernt erobert, das ist ein Desaster!“

Julia Shpiler stammt aus einem Dorf in der Nähe von Kiew: „Es ist von Tanks umzingelt. Meine Tante schrieb mir, daß sie, als sie einkaufen wollte, Schüsse gehört habe. Die Banken sind geschlossen, genauso wie die Lebensmittelmärkte. Das Nachbardorf ist total zerstört, alle Bewohner seien tot. Die Menschen, die nicht mehr in die Bunker flüchten können oder wo es gar keine Bunker gibt, die haben jetzt Todesangst.“

„Es liegt in den Händen eines jeden Russen“

Auf dem Pariser Platz trägt sie ein Plakat. In englischer Sprache ist zu lesen: „Es liegt in den Händen eines jeden Russen, die Invasion der Ukraine zu stoppen. Helft uns! Steht uns bei!“ Im Grunde tun genau das zwei junge Frauen die am Rand der Demo stehen. Sie tragen Schilder mit der Aufschrift: „Wir sind Russen, wir wollen keinen Krieg.“ Ein Interview wehren sie sehr höflich, aber bestimmt ab.

Festnahme des Cousins in St. Petersburg
Festnahme des Cousins in St. Petersburg Foto: Martina Meckelein

Nur einige hundert Meter entfernt vom Pariser Platz, an der Straße Unter den Linden, prunkt ein Monumentalbau aus der späten Stalinära. Der Sitz der russischen Botschaft. Sie ist weiträumig mit rot-weißen Metallgittern abgesperrt. Doch die breite Fußgängerallee zwischen den Fahrspuren ist frei begehbar. Hier haben sich Demonstranten eingefunden. Aus einem Lautsprecher klingt der John Lennon Klassiker: „Give Peace a Chance“.

Auf dem Gebäude weht die russische Flagge, hinter den riesigen Fenstern leuchtet es schummerig. Sah ähnliches Erich Weinert, als er systemkonform reimte: „Die Stadt hat alle Augen zugemacht. Und nur im Kreml drüben ist noch Licht.“ Davon, daß das Land ruhig schläft kann keine Rede sein. Und dass auch Putin, ein paar tausend Kilometer entfernt, noch wacht, ist auszugehen. Was ihm die Zukunft bringen möge, hat Jewgenij Gamal auf sein Plakat gemalt: „Putin und alle Verantwortlichen! Den Haag wartet auf Euch.“

Eine Russin spricht dann doch

Der Jurist steht an einer Parkbank, direkt der Botschaft gegenüber und hält seit vier Stunden in der Kälte durch. „Die Ukraine hat keine Chance. Die russischen Truppen stehen 20 Kilometer vor Kiew. Alle versuchen da rauszukommen. Jetzt haben wir gehört, daß die Ukraine nur Frauen und Kinder über die Grenze läßt, die Männer müssen kämpfen.“ Was für eine andere Welt. 2015 türmten die Männer aus Syrien und ließen ihre Frauen und Kinder zurück. Jewgenij Gamal ist Vater zweier kleiner Kinder, seine Frau ist Russin.

Seine Frau möchte nichts sagen. Auch am nächsten Tag, dem zweite Tag des Krieges, in der russisch orthodoxen Kirche am Hohenzollerndamm möchten weder der Geistliche, noch die Gläubigen ein Interview geben. Eine Gemeindehelferin sagt leise: „In keiner Kirche wird ihnen jemand ein Interview geben.“

Julia Shpiler
Julia Shpiler Foto: Martina Meckelein

Eine Russin spricht dann doch. Die Frau möchte anonym bleiben, wohnt in Brandenburg. Und ihre Geschichte hört sich ähnlich an, aber mit vertauschten Rollen: „Ich bin im Gebiet von Rostov geboren, mein Vater war Ukrainer“, stellt sie sich vor. „Dort sind gerade 100.000 Frauen und Kinder aus Donezk. Ihre Männer sind dort geblieben um ihre Heimat zu schützen. Acht Jahre lang geht der Krieg schon und an die 13.000 Leute sind gestorben. Seit acht Jahren bomben dort die ukrainischen Nazi. Seitdem versucht Donezk einen diplomatischen Frieden herbeizuführen.“

In Donezk und Luhansk gebe es nur Russen, allerdings verböte die Ukrainische Regierung ihnen die Muttersprache. Noch schlimmer: „Sie haben sogar eine Hauptstraße nach Stepan Bandera benannt. Der hat tausende Menschen im Zweiten Weltkrieg getötet. Natürlich möchte Donezk nicht bei der Ukraine bleiben.“ Der Aggressor ist ihres Erachtens die Ukraine, die täglich Donezk bombardiere. „Ich bin Frau und Mutter, ich bin gegen Krieg. Aber was kann Russland in dieser Situation machen, wenn Russen sterben und Hilfe von Russland erbeten?“ Der Kriegsgrund seien Amerikas Wünsche nach Militärbasen. Putin wolle das selbstverständlich nicht.

„Zum Beispiel Odessa. Dort wurden 40 Russen lebendig verbrannt, eine war sogar schwanger. Es waren friedliche Proteste gegen die heutige Regierung der Ukraine. Die Menschen wollten ihre Sprache sprechen und russisch bleiben. Sie wurden getötet.“ Damit spielt sie auf die Ereignisse des 2. Mai 2014 an. Bei Kämpfen zwischen Ukrainern und pro-russischen Demonstranten wurden 48 Menschen getötet und 250 verletzt.

Die Ermittlungen zu diesem grauenvollen Massaker sind mehr als dürftig. „Auch heute werden alte Menschen von Nazis geschlagen. Hat das jemand in den Zeitungen erwähnt? Nein. Seitdem die sogenannte Demokratie in der Ukraine herrscht, gibt es dort keine Arbeit, kein Geld, nur Krieg und unglückliche Gesichter. Amerika will ein schwaches Europa und ein schwaches Rußland. Das machen die seit langem. Die Deutsche sollten nicht nach Amerikas Pfeife tanzen. Deutschland ist ein starkes Land, das passt Amerika nicht.“

Sie erleben ihre eigene Hilflosigkeit

Es ist erstaunlich, daß in Westeuropa wohnende Russen, Menschen, die also durchaus Zugang zu westlichen Medien haben, so stringent die russische Propaganda und Wortwahl übernehmen. Aber auch im Westen geborene Menschen sollten Vorsicht walten lassen. Angaben, egal von welcher Seite, sind natürlich nicht oder nur schwer verifizierbar. Viele Gesprächspartner sind sicherlich in einem psychischen Ausnahmezustand. Sie haben Angst um Angehörige und erleben ihre eigene Hilflosigkeit.

Anti-Putin-Protest vor dem russischen Ehrenmal
Anti-Putin-Protest vor dem russischen Ehrenmal Foto: Martina Meckelein

Spürbar erregt, logischerweise sehr subjektiv, russische Soldaten sind für sie „Terroristen“, „Verbrecher“ schildert eine in Berlin lebende Ukrainerin, deren Eltern und der 14jähriger Bruder in Charkiw leben, ihre Sicht des Krieges und des Alltags in der Ukraine gegenüber der JUNGEN FREIHEIT: „Bereits kurz nach Beginn des russischen Angriffs, schlug hundert Meter von unserem Wohnhaus eine Rakete oder Granate ein.“ An Flucht aus der Stadt ist nicht zu denken. Ihre Familie harrt zuhause aus. Wege in andere Landesteile sind durch den russischen Vormarsch versperrt. „Mit dem Auto jetzt Richtung Westen zu fahren, wäre noch gefährlicher“.

Der Widerstandswille in der ukrainischen Bevölkerung, die die Russen als Eindringlinge sehen, sei groß. Es gäbe viele freiwillige Kämpfer. „Stadtbewohner, die zum größten Teil eigentlich russischsprachige Ukrainer sind, sprechen jetzt alle ukrainisch, russisch gilt als Sprache der Okkupanten“, erzählt sie. Leute benutzten eine Art Passwörter, um sich als Charkiwer zu erkennen. „Aber man erkennt auch am Dialekt, ob jemand russischsprachiger Ukrainer oder Russe sei, außerdem benutzt man manche Begriffe so nur in Charkiw.“ Große Sorge hätte die Ukrainer vor „Diversanten“, also Saboteuren in der Stadt. „Es geht das Gerücht um, daß schon lange vor dem Angriff „Schläfer“ von den Russen eingeschleust worden sein.“

„Jetzt habe ich keine Angst mehr vor dem Tod“

Ukrainer organisieren sich in sozialen Netzwerken, gründen Chatgruppen und dienen dabei der eigenen Armee als Späher. „Meine Mutter hat zum Beispiel einen Konvoi der Russen beobachtet und sofort unsere eigenen Leute informiert. Die konnten den Konvoi dann bekämpfen.“ Es werden Anleitungen für den Bau von Molotowcocktails unter die Leute gebracht samt Erläuterung, wo sie den Panzer treffen müssen, um ihn auszuschalten.“

Die russische Armee greife gezielt die Infrastruktur wie Wasserwerke und Stromleitungen an. „Dadurch fehlt es natürlich an Wasser, aber auch an Medikamenten oder Babymilch“, sagt sie. „Eine Freundin von mir, sie ist Mutter eines zweijährigen Kindes, stand in einer Warteschlange, die von Russen beschossen wurde. Sie hat es überlebt, sagte mir am Telefon: ‘Jetzt habe ich keine Angst mehr vor dem Tod’.“

 

Das Brandenburger Tor in den ukrainischen Farben Foto: Martina Meckelein
Anzeige
Anzeige

Der nächste Beitrag