„Sie sollten mehr Selbstbewußtsein haben“, riet Egon Bahr mit Blick auf die JUNGE FREIHEIT. Was er damit genau meinte, erschloß sich mir nicht recht, doch bemerkenswert war, daß eine Ikone der Sozialdemokratie dieser Zeitung nicht nur ein Interview, sondern auch Ratschlag gab.
Als ich das erstemal sein Büro in der SPD-Parteizentrale betrat, hätte ich ihn fast übersehen: Der erstaunlich kleine Mann verschwand beinah hinter dem riesigen Schreibtisch. Natürlich, Bedeutung verlangt kein Gardemaß, und doch irritierte es bei dem Gedanken, hier einem der ganz Großen unserer Nachkriegsgeschichte gegenüberzustehen. Dann begann die lebende Legende zu sprechen und sein scharfer Intellekt die Größenverhältnisse umzudrehen.
Das Interview mit seinem Parteifreund Peter Glotz war von Fairneß, vor allem aber politischem Antagonismus geprägt. Bahr dagegen sprach wie mit jemandem, den er und der ihn versteht, bis er schließlich sagte: „Über Deutschland schrieb ein Dichter: ‘Weinend lieb’ ich Dich noch.’ Denn trotz der schrecklichen Geschichte ist es doch mein Land. Was denn sonst?“ Und mit Blick auf die Vergangenheitsbewältigung: „Kein Volk kann dauernd knieend leben.“
„Ich bin stolz darauf, ein Deutscher zu sein“
Kurz darauf bewies er erneut seine Sympathie, als Medien und Parteifreunde sich über das Interview ereiferten. Im Fernsehen verteidigte Bahr jedoch nicht nur sich gegen die Vorwürfe, sondern diese Zeitung gleich mit: „Ich finde sie interessant und intelligent (…) und sehe mit Entsetzen, daß man sich darauf beschränkt, zu diskutieren, ob ich ihr ein Interview hätte geben sollen“, sowie im Tagesspiegel seine patriotischen Äußerungen mit dem Satz: „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein.“ Ernüchtert, weil sie bei ihm auf Granit bissen, blieb sein nächstes JF-Interview von den meisten unkritisiert, ebenso wie ein Artikel, den er 2011 für uns schrieb.
Natürlich ist das nur „unser“ Egon Bahr, nicht der ganze. 1922 in Thüringen geboren, diente er als Soldat im Weltkrieg, wurde Journalist, trat 1956 der SPD bei und avancierte zum Berater und Freund Willy Brandts, dem er 1969 ins Kanzleramt folgte. Dort wurde er zum „Architekten der Ostverträge“ und so zur politischen Legende. Anrührend, daß er bei Brandts Sturz öffentlich den Kampf gegen seine Tränen verlor.
Irritierend bleiben Sätze zur Deutschen Einheit, etwa die Rede davon sei „politische Umweltverschmutzung“. Was aber vielleicht taktisch gemeint war, getreu der Devise des französischen Nationalisten Léon Gambetta: „Immer daran denken, nie davon sprechen!“
Was für uns bleibt, ist sein öffentliches Bekenntnis zu Deutschland in einer Zeit, in der dies unpopulärer denn je war. So wie seine freundschaftlichen Gesten und seine standhafte Weigerung, von uns abzurücken. 2015 mit 93 Jahren verstorben, wäre der Unerschrockene am heutigen Freitag hundert Jahre alt geworden.
JF 12/22