BERLIN/KABUL. Die Bundesregierung hat in der Nacht zu Dienstag erste Personen aus Kabul evakuiert. Mit einem Bundeswehrflugzeug seien „zu Schützende nun auf dem Weg nach Taschkent in Usbekistan“, teilte das Verteidigungsministerium mit. Außerdem seien Bundeswehrsoldaten nach Kabul gebracht worden.
#Afghanistan: Der erste A400M der Bundeswehr hat den Flughafen #Kabul wieder verlassen – mit zu Schützenden ist die Maschine nun auf dem Weg nach Taschkent/Usbekistan.
Vor Ort in Kabul sind Sicherungskräfte der Bundeswehr verblieben, diese bereiten weitere Evakuierungsflüge vor.
— Verteidigungsministerium (@BMVg_Bundeswehr) August 16, 2021
In dem Flieger befanden sich laut Bild-Zeitung und Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) sieben Personen. „Die geringe Zahl ist der Tatsache geschuldet, daß die Lage vor Ort äußerst instabil ist“, zitierte das RND eine Quelle aus dem Auswärtigen Amt. Bis zur letzten Sekunde sei unklar gewesen, ob das Flugzeug überhaupt landen könne.
Die deutsche Botschaft habe zudem nicht rechtzeitig mehr Personen zum Flughafen bringen können, erfuhr die Bild aus Regierungskreisen. Die Taliban hätten ab 21 Uhr eine Ausgangssperre verhängt, weshalb es nichts geholfen hätte, wenn der Flieger noch länger am Boden geblieben wäre. Ursprünglich sollten mindestens 57 Botschaftsangehörige und 88 weitere Deutsche ausgeflogen werden. Die A-400M war rund fünf Stunden lang in der Luft gekreist, ehe der Treibstoff auszugehen drohte und eine Landung möglich wurde.
Kramp-Karrenbauer: 600 Soldaten bereit für Luftbrücke
„Wir haben jetzt alles über Nacht für die Evakuierung vorbereitet”, sagte Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) im ARD-„Morgenmagazin“ am Dienstag. „Die zweite Maschine wartet gerade auf die Freigabe der Amerikaner, daß sie nach Kabul aufbrechen kann, damit wir mit den Evakuierungen beginnen können.” Es gebe nun zwei Szenarien: Der Flughafen könne nur für einen kurzen Zeitraum offengehalten werden. „Dafür haben wir auch sehr robuste Kräfte jetzt vor Ort und verstärken weiter.” Der zweite Fall sei der Aufbau einer Luftbrücke. Hierfür seien am Ende bis zu 600 Soldaten vorgesehen.
Die Ministerin kündigte gleichzeitig eine Aufarbeitung der jüngsten Ereignisse an. „Es gibt vieles, was wir auch innerhalb der Nato aufarbeiten müssen. Es wird dann aber auch die Fragen an uns geben, inwieweit wir bereit sind, die Konsequenzen dann auch zu tragen, und inwieweit wir bereit sind, auch Maßnahmen zu ergreifen, die wir bisher den Amerikanern überlassen haben.” Der Bild-Zeitung zufolge ist auch die Eliteeinheit KSK in Kabul vor Ort.
Merkel räumt Fehleinschätzung der Lage ein
Zuvor hatte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) enttäuscht über den 20 Jahre dauernden internationalen Einsatz in Afghanistan gezeigt. Jenseits der Bekämpfung des Terrorismus sei alles „nicht so geglückt und nicht so geschafft worden, wie wir uns das vorgenommen haben“, sagte Merkel am Montag in Berlin. „Das ist eine Erkenntnis, die ist bitter.“ Es seien „keine erfolgreichen Bemühungen“ gewesen. Es gelte, daraus Lehren zu ziehen, und bei solchen Einsätzen „seine Ziele auch kleiner fassen.“
Außerdem räumte die Kanzlerin eine Fehleinschätzung der Lage ein. Die Regierung sei nach dem Abzug der Nato-Truppen davon ausgegangen, mehr Zeit zu haben, um eine Lösung für die afghanischen Ortskräfte zu finden. Die Entwicklungen hätten sich jedoch beschleunigt und die afghanische Armee habe „aus welchen Gründen auch immer“ kaum oder keinen Widerstand gegen die Taliban geleistet.
Merkel geriet unterdessen in die Kritik, weil sie Montag abend ein Kino besucht hatte, während die Luftwaffe versuchte, Deutsche und Verbündete aus Kabul auszufliegen. Nach Angaben der Bild nahm die Kanzlerin an der Premiere von „Die Unbeugsamen“ im Delphi-Filmpalast in Berlin-Charlottenburg teil.
Das muss dieses „Gespür“ sein, von dem viele politische Beobachter immer wieder sprechen, wenn sie über Angela Merkel reden. Während deutsche Soldaten ihr Leben riskieren und Afghanen Angst vor der Ermordung durch Taliban haben, lacht die Kanzlerin in einem Berliner Kino. pic.twitter.com/zak2oC4i9r
— Paul Ronzheimer (@ronzheimer) August 16, 2021
Biden verteidigt Abzug
US-Präsident Joe Biden (Demokraten) verteidigte seine Entscheidung, die US-Truppen aus Afghanistan abzuziehen. Nach zwanzig Jahren habe er auf die harte Tour gelernt, daß es nie einen richtigen Zeitpunkt für einen Abzug gebe. Gerade die jüngsten Ereignisse hätten ihm gezeigt, daß es nichts gebracht hätte, noch länger in Afghanistan zu bleiben, sagte Biden in einer Fernsehansprache am Montag abend.
American troops cannot — and should not — be fighting and dying in a war that Afghan forces are by and large not willing to fight and die in themselves.
— President Biden (@POTUS) August 16, 2021
Er räumte aber ein, die Dinge hätten sich schneller entwickelt als erwartet. Die afghanischen Führer hätten kapituliert und seien aus dem Land geflohen. Die afghanische Armee sei zusammengebrochen, manchmal ohne den Versuch, zu kämpfen. „Amerikanische Soldaten könnten nicht – und sollten nicht – in einem Krieg kämpfen und sterben, in dem die afghanische Armee selbst nicht kämpfen und sterben will“, verdeutlichte der Demokrat auf Twitter.
Der UN-Sicherheitsrat forderte indes, in Afghanistan brauche es eine neue Regierung, die geeint, inklusiv und repräsentativ sei. Dazu gehöre auch die volle Beteiligung von Frauen. Afghanistan müsse seinen internationalen Verpflichtungen einschließlich dem humanitären Völkerrecht nachkommen und die Sicherheit aller Afghanen und internationalen Bürger gewährleisten. Auch ein Sprecher von US-Außenminister Antony Blinken verwies in einer Stellungnahme am Montag auf die Forderung des Sicherheitsrates.
Die Taliban haben am Dienstag laut internationalen Nachrichtenagenturen eine Generalamnestie für alle afghanischen Regierungsmitarbeiter angeboten. Die Islamisten riefen die Beamten dazu auf, zu ihrem Arbeitsplatz zurückzukehren. „Sie sollten mit vollem Vertrauen in Ihren Alltag zurückkehren“, hieß es demnach in einer Erklärung. (ls)