„Wir schaffen das“, hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) 2015 auf ihrer Sommer-Pressekonferenz vor den Hauptstadtjournalisten prophezeit. Knapp drei Jahre nach Beginn der Flüchtlingskrise sitzt die Regierungschefin auf dem gleichen Stuhl der Bundespressekonferenz und muß einräumen, daß ihre Prognose voreilig und unverantwortlich war.
Das gesteht sie vor den knapp 300 Journalisten zwar nicht ein, deutlich wird dies aber in ihren Antworten während der etwa 90 minutenlangen Fragerunde. Routinierte Politikerin, die sie nach bald drei Jahrzehnten in Regierungs- und Parteiämtern ist, versucht sie deshalb mit einem einleitenden Statement die Aufmerksamkeit auf andere Themen zu lenken. Kindergeld- und Rentenerhöhung, Brückenteilzeit, Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz, Pflegestärkungsgesetz sind die Stichworte, die die Handlungsfähigkeit ihres vierten Kabinetts unterstreichen sollen.
Doch ihr Versuch scheitert. Der Asylstreit mit ihrem Innenminister Horst Seehofer, die Meinungsunterschiede in der EU über den Umgang mit den Flüchtlingen, das Verhältnis zu US-Präsident Donald Trump stehen im Vordergrund. Kurz zuvor hatte Italiens Außenminister Enzo Moavero Milanesi die EU informiert, daß selbst Schiffe der EU-Mission Sophia nicht mehr mit Flüchtlingen anlanden dürfen.
Merkel: Stauffenberg gab Leben für geeintes Europa
Seit Wochen verbietet Italien bereits Rettungsschiffen von Nichtregierungsorganisationen, in italienischen Häfen anzulegen. Rettungsschiffe sitzen außerdem in Malta fest. Merkel begrüßt die Seenotrettung im Mittelmeer „ausdrücklich“. Voraussetzung sei allerdings, daß die Rechtsordnung eingehalten werde. Die territorialen Gewässer Libyens etwa müssten geachtet werden.
Italien diskutiere jetzt darüber, daß die Rettung eine Gemeinschaftsaufgabe der EU sei, nicht nur die eines Landes. Das Thema der Solidarität stehe im Fokus, sagt Merkel ausweichend und verweist stattdessen auf ihr politisches Credo des Multilateralismus. „Für Europa ist es von entscheidender Bedeutung, daß wir die Migrationsfrage gemeinsam lösen können.“ Das geplante Einwanderungsgesetz, um den Fachkräftemangel zu beheben, sei von „großer Bedeutung“, auch um illegale Migration einzudämmen.
Für ihre Europapolitik nimmt Merkel auch die Widerstandskämpfer des 20. Juli in Anspruch, die heute vor 74 Jahren ihr Attentat auf Adolf Hitler wagten. Jetzt entscheide sich, „ob wir wirklich aus der Geschichte gelernt haben“, sagt sie mit Blick auf den Jahrestag. Damals hätten viele Menschen ihr Leben gelassen „für ein vereintes Europa“. Die berechtigte Frage, ob dies 1944 wirklich die Motivation des Stauffenberg-Kreises war, wird leider nicht gestellt.
Kanzlerin sieht ihre Autorität nicht beschädigt
Es geht im vollbesetzten Saal der Bundespressekonferenz nicht um Widerstandskämpfer, es geht um Widersacher und damit um Horst Seehofer. Ob ihre Autorität nach dem Asylstreit mit ihrem Gegenspieler beschädigt sei ? „Nein, nein, nein.“ Man habe einen Kompromiß gefunden. Stichwort Richtlinienkompetenz. Erstrangig sei, daß die Handlungen der Regierung entsprechend den Richtlinien der Kanzlerin erfolgen. An Rücktritt habe sie während des Asylstreits nicht gedacht, versichert sie. Ohne Umschweife räumt sie ein, daß der Konflikt die Politikverdrossenheit befördert habe. „Ja, das ist so.“ Die Tonalität sei „sehr schroff“ gewesen.
Über Trump läßt sich Merkel kein schlechtes Wort entlocken, trotz vieler Fragen zu der Persönlichkeit des Präsidenten. Jede der rund 70 Fragen wird sachlich, ruhig, ja nahezu emotionslos pariert. Immerhin, der „gewohnte Ordnungsrahmen“ stehe derzeit „unter Druck“, gibt sie zu. Der Multilateralismus sei „nicht so selbstverständlich“ wie früher, doch blieben die transatlantischen Beziehungen von zentraler Bedeutung. Europa könne sich nicht weiter darauf verlassen, daß die USA als Ordnungsmacht auftrete, wiederholt die Regierungschefin ihre Einschätzung von vor gut einem Jahr. Zu Trumps Anfeindungen gegenüber Deutschland sagt Merkel nur: „Ich habe es zur Kenntnis genommen.“
Streit muß ausgetragen werden
Es fällt auf, daß die Opposition im Bundestag während des Frage- und Antwortspiels praktisch keine Rolle spielt, auch nicht die AfD. Die Frage, ob der Rechtspopulismus in der Asyldebatte schon das Ruder übernommen habe, wird gestellt. Merkel übernimmt diesen Begriff nicht. „Ich werde mich gegen die Erosion von Sprache wenden, weil sie Ausdruck von Denken ist. Und das kann auch Spaltung befördern.“ Jedoch müsse Streit auch ausgetragen werden. Allerdings hatte Merkel zuvor davon gesprochen, daß die „entstandenen Spaltungen“ in der Gesellschaft überwunden werden müßten.
Keine Sommer-Pressekonferenz ohne Fragen zum Privaten. Zu Spekulationen, sie fahre erstmals nach zehn Jahren nicht mit ihrem Mann in den Tirolurlaub, sagte sie nichts. Aber immerhin: „Ja, ich freue mich, daß ich jetzt ein paar Tage Urlaub habe und vielleicht auch mal länger schlafen kann.“ Und sie ergänzt: „Aber ich klage nicht.“
Doch kein Wunder, die Strapazen der vergangenen Monate sind der Kanzlerin deutlich anzusehen. Nach knapp 13 Jahren in der Regierungszentrale ist die Frage nach ihrer weiteren Amtsdauer Journalistenpflicht. Sie werde ihr Versprechen, bis zum Ende der Wahlperiode 2021 im Amt zu bleiben, einlösen, versichert sie ein weiteres Mal. Ob sie denn eine fünfte Amtszeit ausschließen könne? Merkel: „Jede Frage hat ihre Zeit.“ Und die hält sie derzeit noch nicht für gekommen. In Bedrängnis ist die Dauerkanzlerin nicht gekommen.