Der chinesische Drache grollt. In einer Stellungnahme vom 9. November attackiert der Sprecher der chinesischen Botschaft in Berlin die Bundesrepublik scharf. Deutschland habe sich „eklatant“ in innere Angelegenheiten eingemischt. Die chinesische Seite zeigt sich darüber „äußerst unzufrieden“ und sieht eine „grobe Verletzung der Souveränität Chinas“.
Der Grund für die Verstimmtheit: eine Bundestagsdebatte vom 8. November. Die Grünen hatten die „Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang“ auf die Tagesordnung gesetzt. Dabei hatten sowohl die Grünen wie auch die CDU, SPD und FDP den Antrag gutgeheißen, demnach der Bundestag auf China – unter Mithilfe der UN, sowie bilateral der Türkei und Kasachstan – einwirken soll. Offensichtlich hatte China im Vorfeld vor diesem Schritt gewarnt.
Die nordwestliche Provinz Xinjiang machte in den vergangenen Wochen Schlagzeilen, weil das moslemische Turkvolk der dort lebenden Uiguren zu hunderttausenden in Umerziehungslagern interniert sind. Human Rights Watch berichtet von willkürlichen und zeitlich unbefristeten Inhaftierungen. Michelle Bachelet, die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, forderte sofortigen Zugang zur Region für UN-Exporten und bezeichnete die Vorwürfe als „zutiefst erschütternd“.
„Religiöses extremistisches Gedankengut“
Insgesamt leben in Xinjiang 23 Millionen Menschen, davon gehören rund zehn Millionen den Uiguren an. Laut UN ist rund ein Zehntel des gesamten Turkvolkes in Internierungslagern eingesperrt. Die UN ordnet die Region als „no rights zone“ ein. Städte wie Ürümqi und Kaschgar dominiert ein Netz aus Videokameras. Menschenrechtsorganisationen berichten, die chinesische Regierung unterziehe den Uiguren eine regelrechte Gehirnwäsche, um sie im „chinesischen Geist“ zu erziehen.
China streitet letzteren Vorwurf nicht völlig ab, betitelt die Haftanstalten jedoch als „Bildungseinrichtungen“. Viele Uiguren seien von „religiösem extremistischen Gedankengut“ beeinträchtigt, China bietet dagegen Kurse an, wie man „Bürger einer Nation“ wird. Die chinesische Erwiderung beinhaltet die Antwort auf die Gründe für Chinas rigides Vorgehen im Staub der Taklamakan-Wüste.
Noch in den 1980ern wappneten die Einwohner der Provinzhauptstadt Ürümqi ihre Türen und Fenster noch mit Lehmschichten, um ihre Häuser gegen Stürme zu schützen. Heute ist Ürümqi eine moderne Millionenmetropole von über 3,5 Millionen Einwohnern und Chinas Tor zu den geostrategischen Spielplätzen Zentralasiens und Knotenpunkt im Netzwerk von Öl- und Gasfeldern der Region.
Kein Jahr ohne Terroranschläge
Gleichzeitig hat sich auch die Demographie Ürümqis massiv gewandelt: im Jahr 2010 machten Uiguren nur noch 13 Prozent der Bevölkerung aus. Minderheit im eigenen Land – das Konzept gleichzeitiger Modernisierung von dünn besiedelten Landstrichen, begleitet von einer massiven Ansiedlung der chinesischen Mehrheitsbevölkerung, hat Tradition in der Geschichte des Reichs der Mitte. Wenn Xinjiang die Grenzmark Chinas ist, dann sind die Han-Chinesen seine Wehrbauern.
Was im Hochland von Tibet Erfolg hatte, muß aber nicht zwangsläufig für die Taklamakan-Wüste gelten. Schon 1995 erklärte ein Provinzbeamter der deutschen Journalistenlegende Peter Scholl-Latour bei dessen Besuch in Ürümqi: „Wir machen uns keine Illusion. Das Problem der islamischen Wiedergeburt entdecken wir auch in dieser Region. Das wird sich nicht durch wirtschaftliche Fortschritte allein beheben lassen.“
Seit 2007 vergeht kein Jahr ohne Terroranschläge in Xinjiang. 2009 brach eine uigurische Revolte in der Provinzhauptstadt aus. Der Zorn entlud sich gegen die chinesische Zivilbevölkerung und staatliche Institutionen: ein regelrechter Mob tobte in den Straßen, plünderte chinesische Geschäfte, verwüstete chinesische Quartiere und setzte Behördenstellen in Brand. 194 Menschen, mehrheitlich Han-Chinesen, wurden Opfer der Revolte. Die genaue Zahl der uigurischen Opfer im Zuge der nachfolgenden Niederschlagung sind bis heute unbekannt.
Uiguren in al-Qaida und IS aktiv
2013 schwappt die uigurische Gewalt ins chinesische Herzland. Auf dem Pekinger Tianmen-Platz raste ein Auto in eine Menschenmenge. 2014 attackierten schwarzgekleidete Personen die Passanten des Hauptbahnhofs von Kunming mit Messern und Macheten. Im Folgejahr attackierten drei Uiguren am Bahnhof von Guangzhou Zivilisten mit Messern.
Uigurische Terroristen agieren jedoch nicht allein auf regionalem oder nationalem Territorium. Über den islamischen Terrorismus besteht ein globales Netzwerk, über das die Dschihadisten auch im Ausland agieren. Unter den legendären Gefangenen von Guantanamo Bay fanden sich schon damals eine Vielzahl von Uiguren. Auch al-Quaida und der IS zählte uigurische Extremisten in den eigenen Reihen – die syrische Stadt Dschisr al-Schughur stand sogar unter der kompletten Kontrolle uigurischer Islamisten, nachdem diese die Freie Syrische Armee unterwandert hatten. Sie waren maßgeblich an der Vertreibung der dortigen christlichen Minderheit beteiligt.
Die Bundestagsfraktionen kanzeln dagegen den islamischen Terrorismus als reinen Vorwand ab. Wie ernst es aber China mit diesem Programm ist, macht die aktuelle Protestnote deutlich: In Xinjiang gab es „seit nunmehr 22 Monaten in Folge keine gewaltsamen Terrorattacken. Die chinesische Seite ist davon überzeugt, daß Sicherheit und die Wahrung der Menschenrechte untrennbar miteinander verbunden sind“. Und zuletzt faucht der Drache nach: „Wir hoffen, daß die deutsche Seite das Anliegen und die Demarche der chinesischen Seite ernst nehmen wird, um sicherzustellen, daß die deutsch-chinesischen Beziehungen sich auch weiterhin in die richtige Richtung entwickeln.“