HAMBURG. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat die Grenzschließung der Balkanländer für Asylsucher kritisiert. „Wenn Sie mich fragen, ob die Schließung der Balkanroute das Problem gelöst hat, sage ich klar Nein“, sagte sie in einem Gespräch mit der Zeit. „Sie hat in den Wochen, bevor das EU-Türkei-Abkommen in Kraft trat, zwar dazu geführt, daß weniger Flüchtlinge in Deutschland ankamen“, räumte sie ein, „aber dafür 45.000 in Griechenland“.
Würde man das auf die Einwohnerzahl Griechenlands hochrechnen und mit der Einwohnerzahl Deutschlands vergleichen, argumentierte die Kanzlerin, käme man auf 360.000 Personen. Das wären dann „fast doppelt so viele, wie wir im schwierigsten Monat November hatten“. Daher würde nur das EU-Türkei-Abkommen eine nachhaltige Lösung bieten.
Kanzlerin nimmt Selbstkritik zurück
Die Worte der Kanzlerin anläßlich des ersten Jahrestages der Grenzöffnung für Syrer, die in den Medien als Eingeständnis eines Fehlers gedeutet wurde, relativiert Merkel. Ihre Aussage, es seien Fehler gemacht worden, habe sich lediglich auf „das ganze System der europäischen Flüchtlings- und Migrationspolitik“ bezogen. An ihrer eigentlichen Politik halte sie fest, auch bei einzelnen Abweichungen: „In der Grundhaltung aber ist meine Politik konstant geblieben.“
Unzulänglichkeiten der Dublin-Regelung, wo Asylsuchende zunächst in dem Land bleiben sollen, in dem sie zuerst europäischen Boden betreten, sieht Merkel durch Deutschland selbst verschuldet. „Denn wir haben uns vor Jahren dagegen gewehrt, daß der Schutz der Außengrenzen europäisisiert wurde. Und wir haben damals auch die Verteilungsquoten nicht gewollt.“
Amtseid neu interpretiert
Ihren Amtseid, nach dem der deutsche Regierungschef seine Kraft „dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden“ solle, will Merkel neu interpretiert wissen. „Wenn ich als deutsches Staatsoberhaupt dafür sorgen will, daß es uns Deutschen gut geht, daß die Europäische Union zusammenhält, muß ich mich auch darum kümmern, daß es in Europas Nachbarschaft so zugeht, daß Menschen dort Heimat auch als Heimat empfinden.“
Früher habe Deutschland aber die „strategisch hochwichtige Frage“ über den Umgang mit Afrika ausgeblendet. „Wir waren die meiste Zeit schlicht zufrieden, daß keine Flüchtlinge kamen.“ Nun müsse es sich dem Problem stellen, weil die Menschen „vor unserer Tür“ stünden. Sie sei daher „überzeugt, daß unsere Sicherheit, unser Leben in Frieden und unsere nachhaltige Entwicklung mit der Lebenssituation von Menschen, die weit weg von uns wohnen, zusammenhängen“.
Zwar könne Deutschland nicht die Welt von heute auf morgen zum Besseren bekehren. „Aber wenn wir deutsche Interessen verfolgen wollen, müssen wir realistischerweise sagen, daß auch das Wohl Afrikas im deutschen Interesse liegt.“ (FA)