Man habe die Deutschen entweder an der Gurgel hängen oder auf den Knien liegen, lautet ein vielzitiertes Bonmot Winston Churchills. Bloß nicht bei den anderen anecken, bloß nicht „typisch deutsch“ daherkommen, sich im Zweifelsfall lieber noch ein bißchen kleiner machen – wohl kein anderes Volk hat die Selbstverleugnung und das verinnerlichte schlechte Gewissen ob der eigenen Identität so perfektioniert wie die Deutschen, die eben dadurch dem Rest der Welt wieder typisch deutsch erscheinen. Und dabei besser angesehen sind, als sie es sich selbst wohl vorstellen können.
Die anstehende Sommerferiensaison wird es wieder bestätigen – Deutschland ist als Reiseland beliebter denn je, der Deutschland-Tourismus hat Hochkonjunktur, teilt das Statistische Bundesamt fürs erste Halbjahr mit. Deutsche Touristen werden im Ausland als solide Kundschaft geschätzt, richtig unbeliebt sind sie nur bei den eigenen Landsleuten auf Reisen, die ja eigentlich lieber italienischer als die Italiener und französischer als die Franzosen wären
Ein Echo aus längst vergangenen Wirtschaftswunderzeiten
Gute Noten auch für die deutsche Wirtschaft: Für Investoren ist Deutschland weltweit als Top-Standort an sechster Stelle, nach den USA und den BRIC-Staaten, während der Rest Europas stark abfällt; solide Infrastruktur, kaufkräftiger Binnenmarkt und hohe politische und soziale Stabilität werden honoriert. Deutsche Unternehmen zählen zu den begehrtesten Arbeitgebern Europas, und das nicht erst seit die gutausgebildete Jugend der südlichen Krisenstaaten verstärkt ihr Heil im Ausland sucht.
Klingt fast wie ein Echo aus längst vergangenen Wirtschaftswunderzeiten und wohlstandsgesättigten achtziger Jahren, diese Momentaufnahme: Deutschland, wirtschaftlicher Riese, politischer Zwerg, dessen westliche Hälfte sich unter alliierter Obhut im Windschatten der Weltpolitik als ökonomisches Kraftpaket Achtung und Anerkennung erarbeiten durfte, und sei es als der gute Onkel mit dem dicken Scheckbuch. Mit der Wiedervereinigung und dem Übergang vom Kalten Krieg zur multipolaren Welt endete diese Atempause der Geschichte schon vor über zwei Jahrzehnten.
Wie einem Kanarienvogel, der es nicht fassen kann, daß die Käfigtüre plötzlich einen Spalt weit offensteht, fällt es deutschen Politikern nach wie vor schwer, sich aus vertrauten und liebgewordenen Abhängigkeiten zu lösen – teils weil man darin festgehalten wurde und sich selbst sogar freiwillig noch stärker fesselte. Diesem grotesken Mißtrauen der politischen Klasse gegen das eigene Volk und Land verdanken wir den Euro, das „Versailles ohne Krieg“.
Das „Versailles ohne Krieg“ als Phyrrhussieg
In der Krise erweist sich dieser französische Triumph jetzt als Pyrrhussieg. Die Führungsverantwortung, die die Deutschen selbst am liebsten auf ewig an der Brüsseler Garderobe abgegeben hätten, fällt ihnen durch das Scheitern des Euro nun doch wieder zu – Geographie und ökonomische Potenz sind eben Schicksal. Ein Land von der Größe und Lage Deutschlands kann auf Dauer nicht darauf verzichten, nationale Interessen zu definieren und durchzusetzen und – zu führen.
Im übrigen Europa sieht man das weit weniger dramatisch. Vor allem in Osteuropa, hat eine Studie europäischer Politik-Institute herausgefunden, scheint man das von den Deutschen geradezu zu erwarten. Das Hervorzerren der Pappkameraden der Vergangenheit, um die Deutschen mit ihren historischen Schuldkomplexen auf Linie zu bringen, erstarrt zum Ritual; allmählich durchschauen das sogar die Deutschen selbst.
Denn im Kern geht es um Geographie und Ökonomie. Deutschland ist eine mitteleuropäische Führungsmacht, die im europäischen Konzert ihre verläßlichste Hausmacht im Blick nach Norden und Osten finden kann. Die deutsche Wirtschaft, mittelständisch organisiert und produktionsorientiert, funktioniert aller Globalisierung zum Trotz bis heute anders als die anglo-amerikanische mit ihrer Dominanz des Finanzkapitals, und das ist nach wie vor ihre wichtigste Stärke; der Verlauf der Finanz- und Schuldenkrise hat das Spotten in den Investment-Etagen über vermeintlich altmodische deutsche Tugenden wie Sparsamkeit leiser werden lassen. Selbst jenseits des Atlantik weicht die aus diesen Quellen gespeiste Deutschenbeschimpfung inzwischen nachdenklicheren Tönen.
Wer wird in zwanzig, dreißig Jahren den Karren ziehen?
Grund zu Selbstzufriedenheit und Übermut kann das gleichwohl nicht sein. Denn das Fundament des deutschen Erfolgs steht längst nicht mehr so solide wie in den goldenen Zeiten der Scheckbuchdiplomatie. Auch Deutschland ist überschuldet; die jedes Maß und Ziel sprengenden Haftungsrisiken der „Euro-Rettung“ drohen Sparer und Mittelstand zu überfordern, die Garanten und Leistungsträger der deutschen Wirtschaft, denen mit der ideologisch motivierten „Energiewende“ eine weitere unnötige Eisenkugel ans Bein gebunden wurde; der demographische Wandel schließlich, der die Geburtenjahrgänge im Vergleich zu den Wirtschaftswunderjahren halbiert hat, und der Verfall des Bildungswesens, das Jahr für Jahr mehr Analphabeten und Ausbildungsunfähige mit papierenen Scheinqualifikationen entläßt, wirft die drängende Frage auf, wer denn in zwanzig, dreißig Jahren den Karren noch ziehen soll.
Überzeugend kann das deutsche fiskal- und wirtschaftspolitische Modell daher nur bleiben, wenn seine Fundamente bewahrt und seine Ressourcen nicht unbegrenzt für ideologische Experimente verpulvert werden. Die Angst, ein schlechter Europäer zu sein und nicht mehr geliebt zu werden, wenn man die Spendierhosen auszieht, ist ein falscher Ratgeber. Treue gehört zu den geschätzten deutschen Tugenden, Nibelungentreue ist ihre negative Übersteigerung, die regelmäßig ins Unheil führt.
JF 30-31/12