BERLIN. Die Nachricht platzte wie eine Bombe im politischen Berlin. Claudia Roth wurde am Wochenende nicht zur Spitzenkandidatin der Grünen für die Bundestagswahl nominiert! Bei der von in- und ausländischen Medienbeobachtern fieberhaft verfolgten Urwahl der Öko-Partei hatte sich ein Duo durchgesetzt, das kein Buchmacher ernsthaft auf der Liste gehabt hatte. Der weithin unbeliebte und nur wenig bekannte Jürgen Trittin setzte sich ebenso überraschend klar durch wie die zweitplazierte Katrin Göring-Eckardt, die aufgrund ihrer wenig beachteten Funktionen als Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages und Präses der EKD-Synode bislang eher ein Nischendasein gefristet hatte.
Die ganze Nacht hatten Hauptstadtkorrespondenten kein Auge zugemacht: Wie würde die sensible Politikerin auf den Dolchstoß der Grünen-Basis reagieren? Würde diese Frau, die als Managerin der legendären Pop-Gruppe „Ton Steine Scherben“ Musikgeschichte geschrieben und einer ganzen Generation ihren Stempel aufgedrückt hatte, womöglich mit einem totalen Abschied aus der Politik antworten? Hektische Sondersitzungen lösten sich im Kanzleramt und den Parteizentralen ab. Der eigens aus München angereiste CSU-Vorsitzende Horst Seehofer trat noch mitternachts vor die wartenden Journalisten und erklärte in einem ungewöhnlich emotionalen Bekenntnis: „In diesen schweren Stunden müssen Demokraten zusammenstehen. Wenn Deine Partei Dich nicht mehr will: Komm zu uns, Claudia!“
Roth ist systemrelevant
Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte in einem zuvor von den Koalitionsfraktionen gemeinsam verabschiedeten Kommuniqué erklären lassen, Claudia Roth sei für die deutsche Demokratie „systemrelevant“ und die Deutschen müßten sie dazu drängen, in der Politik zu bleiben, wörtlich: „koste es, was es wolle“. Claudia Roth jedoch hatte sich (Zitat: „Ich bin bestürzt und betroffen“) in ihrem Abgeordnetenbüro eingeschlossen und war auch für engste Freunde nicht mehr zu erreichen. Im Laufe der Nacht zog das politische Erdbeben indes immer weitere Kreise.
Auf einer eilends einberufenen Sondersitzung der UN-Vollversammlung rief Generalsekretär Ban Ki-moon Berlin zu einer raschen Klärung auf. Alle Konfliktparteien bei den Grünen müßten jetzt an den Tisch, so der UN-Chef, der die Entsendung eines Sonderbotschafters anbot. Protestnoten und Solidaritätsappelle erreichten Deutschland auch aus aller Welt. In der Türkei, Marokko und Teilen Nordafrikas kam es in den Morgenstunden zu vereinzelten spontanen Arbeitsniederlegungen.
Massendemonstrationen in ganz Deutschland
Doch auch in den Frühnachrichten konnte noch keine erlösende Nachricht von Claudia Roth vermeldet werden. Indessen hatten Hunderte Aufrufe über den Nachrichtendienst Twitter und Soziale Netzwerke zu kreativen Protestaktionen geführt. Aus fast allen deutschen Großstädten meldeten Agenturen größere spontane Menschenansammlungen in den Zentren. In Hamburg versammelten sich vor dem Rathaus rund 10.000 Bürger und skandierten: „Wenn Claudi geht, dann gehen wir auch.“ In Frankfurt am Main blockierten 8.000 Protestler die Zufahrten zum Bankenviertel. In Köln kam durch eine schwimmende Menschenkette über den Rhein vorübergehend der Binnenschiffahrtsverkehr zum Erliegen.
Im Ruhrgebiet sollen ganze Schulen kollektiv in den Hungerstreik getreten sein, meldeten regionale Radiosender. Ein Polizeisprecher wandte sich im ZDF-Morgenmagazin besorgt an die Öffentlichkeit: „Lange ist die Lage nicht mehr unter Kontrolle zu halten.“ In einigen Gemeinden sei bereits der Notstand ausgerufen worden, weil die Zahl der in Krankenhäuser eingelieferten Patienten mit Herz-Kreislauf-Versagen nicht mehr zu verkraften sei.
Börsencrash verhindert: Roth bleibt im Amt
Doch dann am Vormittag die erlösende Nachricht: Claudia Roth verkündete schon am Montag morgen ihre Rückkehr in die Politik: „Wer mich kennt, weiß, daß mich nach dem bitteren Ergebnis Zweifel und große Zerrissenheit durchgerüttelt haben“, so die Grüne im Blitzlichtgewitter von Hunderten Kameras, die sich im Pulk um sie drängten.
Die Erleichterung ist jetzt mit Händen zu greifen. Ein amerikanischer Korrespondent der New York Times meldete in seinem Bericht: „Obwohl Berlin einen kalten Novembertag erlebt, das Thermometer nur wenige Grade über Null anzeigt, fallen sich an U-Bahn-Stationen, an Kreuzungen wildfremde Menschen in die Arme und die Gesichter strahlen, als sei die Sonne in den Herzen aufgegangen.“
Auch die Börsen reagierten mit Kurssprüngen, die schockartigen Einbrüche der Notierungen vom frühen Morgen konnten zu einem erheblichen Teil wieder aufgeholt werden. Die Lage in Deutschland beginnt sich jedoch in weiten Landesteilen erst allmählich wieder zu normalisieren. (hwr)