Fast könnte man meinen, die CDU leide unter einem politischen Borderline-Syndrom: Eben erst hat sie sich die Wehrpflicht aus dem programmatischen Leib geschnitten, die friedliche Nutzung der Kernenergie abgeschnürt, da wird bereits an anderer Stelle schon fleißig geritzt: Nun heißt es einerseits auf dem Parteitag in Leipzig wohl Abschied nehmen von den Bedenken gegen Mindestlöhne, die kosmetisch rasch zu „verbindlichen Lohnuntergrenzen“ umetikettiert werden, andererseits vom dreigliedrigen Schulsystem, bis vor kurzem noch eine Conditio sine qua non christdemokratischer Bildungspolitik.
Das wird manche schmerzen, es wird Widerspruch heraufbeschwören und die ein oder andere geballte Faust in der Tasche. Vom „Tafelsilber“ ist dann die Rede und von den abtrünnigen Stammwählern. Sonstige Konsequenzen? Wahrscheinlich keine. Selbst die aufbrausenden Vertreter des Mittelstands- und Wirtschaftsflügels werden auf Linie gebracht, wenn die Reihen geschlossen hinter der rastlosen Krisenmanagerin Angela Merkel stehen. Nichts schadet der Partei mehr als offener Streit, dieses Totschlagargument zieht immer.
Kein innerparteilicher Arbeitskreis von Konservativen
Und wer sollte auch sonst opponieren? Es gibt ja noch nicht einmal einen innerparteilichen Arbeitskreis von Konservativen. Selbst das honorige Ansinnen von Landespolitikern wie Saskia Ludwig, Christean Wagner, Steffen Flath und Mike Mohring, die im Januar 2010 forderten, die Union müsse eine christliche Orientierung mit Botschaften zur Leitkultur, zur Bedeutung von Bindung und Freiheit, zur Familie, zum Lebensschutz und zum Patriotismus wieder erkennbarer machen, blieb bisher ohne nennenswerte Resonanz.
Es wäre ungerecht und unzutreffend, machte man allein Parteichefin Merkel für die Selbstverstümmelungen in der C-Truppe verantwortlich. Gerade die schulpolitische Wende haben Unionspolitiker in Ländern und Kommunen längst vorweggenommen. Wo früher gegen Gesamtschulen gewettert wurde, hat man sie jetzt ins Wahlprogramm genommen. Begründung: Die Leute wollen es halt. Die Union – ohnehin mit einer verbreiteten Unlust an geistiger Auseinandersetzung und ideenpolitischem Analphabetentum gesegnet – steckt in der Pragmatismus-Falle:
Der Pragmatiker sieht seine Bestimmung allein im politischen Wirken. Deshalb muß er gewählt werden, also Mehrheiten beschaffen. Alles, was dem entgegensteht – und seien es frühere Leitbilder –, ist zu schleifen. Hauptsache, es läuft; irgendwie. Sonst machen es die anderen, nur schlechter. Deswegen lautet das Motto des Pragmatikers: „Mal bin ich liberal, mal bin ich sozial, mal bin ich konservativ“ (Merkel). Oder: „Ich bin ein Konservativer, aber auch ein Liberaler“ (Peter Ramsauer). Wie das? Nun, kleine Mädchen sind schließlich auch mal Prinzessin Lillifee, mal Bibi Blocksberg.
Das Argument vom „kleineren Übel“ zog immer
Konservativ ist die Union allerhöchstens noch insoweit, als daß sie den Anspruch erhebt, die drei „Essentials“ der alten Bundesrepublik zu bewahren: Westbindung, Europa, Nato. Das war es dann auch. Echte Konservative, so der Politikwissenschaftler Sven-Uwe Schmitz, „haben innerhalb der CDU kaum Einfluß, und außerhalb der CDU finden sie keine Heimat“. Dieses Dilemma konnte sich mancher Vorsitzende in Bund und Land zunutze machen, nicht nur, aber vor allem im Wahlkampf. Das Argument vom „kleineren Übel“ zog immer, auch wenn es meist ein Hütchenspieler-Trick war. Nach der Wahl mußten die so Verführten einsehen, daß es mit dem Versprochenen nicht weit her war; daß alle, die „sowieso“ CDU wählen, leer ausgingen: die kirchentreuen Katholiken, die national Gesinnten, die Bauern.
Wie die großen Mächte, so haben auch Parteien ihre Zeit. Es gibt einen Aufstieg, eine Blüte und den Niedergang. Die Union hat durchaus ihren Anteil am Erfolg der (west-)deutschen Nachkriegsrepublik; die Partei konnte manchmal Schlimmeres verhindern oder (häufiger) immerhin dies noch herauszögern. Jedenfalls stehen in den meisten Fällen die Bundesländer, die kontinuierlich „schwarz“ regiert worden sind, wirtschaftlich und finanziell besser da als die mit „roter“ Tradition.
Eine Bestandsschutzgarantie läßt sich aus solchen Meriten allerdings nicht ableiten. Die Christdemokraten – jedenfalls in ihrer aktuellen Form – sind nicht unverzichtbar – und der Wähler zeigt ihnen das. Dies heißt nicht, daß sie aus dem Parteienspektrum verschwinden. Weder wird die Union wegen interner Flügelkämpfe und Skandale implodieren, vergleichbar der italienischen Democrazia Cristiana Anfang der neunziger Jahre. Noch sollte man hoffen (oder fürchten), daß in absehbarer Zukunft rechts der Union eine echte Alternative entsteht, wie dies den „populistischen“ Parteien in unseren Nachbarländern auf den Trümmern der dortigen Bürgerlichen gelungen ist.
Eine „professionalisierte Wählerpartei“ der Ergebnisoptimierung
Der Union wird sogar der Nachwuchs nicht ausgehen, solange sie ein Karriereversprechen einlösen kann. Dies ist auch mit Wahlergebnissen unter 30 Prozent durchaus möglich, weil in einer kleineren, mitgliederschwachen Organisation die „Ochsentour“ schneller bewältigt werden kann. Sie wird sich über kurz oder lang von der Illusion verabschieden, eine Volkspartei zu sein. Experten prophezeien ihr eine Zukunft als hierarchisch organisierte, straff geführte „professionalisierte Wählerpartei“, der es noch stärker als ohnehin schon um Ergebnisoptimierung und noch weniger um grundsätzliche Überzeugungen geht. Das Totenglöcklein läutet dagegen den innerparteilichen Vereinigungen (mit Ausnahme der Jungen sowie der Senioren-Union), da die Bedeutung ihrer Milieus weiter abnehmen wird.
Die CDU als Ganzes löst sich weder auf, noch geht sie mit lautem Knall unter. Sie dämmert eher weiter vor sich hin, geht neue Koalitionen ein, zur Not als ein Juniorpartner unter vielen. Ziemlich sicher ist nur, daß sie nicht mehr wird, was sie nie war: eine konservative Partei.
JF 46/11