BERLIN. Der Historiker und ehemalige Leiter des deutsch-russischen Kriegsmuseums in Berlin-Karlshorst, Peter Jahn, hat dem Schriftsteller Günter Grass vorgeworfen, die Verbrechen der Nationalsozialisten zu verharmlosen. Er verrechne den Völkermord an den Juden mit dem Leid deutscher Kriegsgefangenen, schreibt Jahn in der Süddeutschen Zeitung.
Hintergrund ist ein Interview des Schriftstellers mit der israelischen Tageszeitung Haaretz. Anläßlich des Erscheinens der Grass-Biographie „Beim Häuten der Zwiebel“ in Israel führte der Historiker Tom Segev ein längeres Gespräch mit Grass in Lübeck.
„Der Deutsche, der ein Feigenblatt brauchte“
In dem Interview mit dem Titel „Der Deutsche, der ein Feigenblatt brauchte“ kritisierte Segev scharf die Opferrolle, die Grass angeblich von sich und den Deutschen zeichnen würde. Grass, so der immer wieder erhobene Vorwurf, blende das jüdische Leid in seiner biographischen Rückschau weitgehend aus und mache sich selbst zum Opfer.
Gegen diese Vorwürfe Segevs verteidigte sich ein merklich gereizter Grass: „Viele Leute mochten die Kritik an der Politik nicht, die ich in Deutschland erhob“, verteidigt er sich gegen die Anschuldigungen. „Zum Beispiel an den ganzen Nazis in der Regierung vom ersten Bundeskanzler, Konrad Adenauer.“ Der Vorwurf einer mangelnden deutschen Selbstkritik wäre nicht gerechtfertigt.
Auf der anderen Seite wolle Grass ein Verständnis dafür ermöglichen, wie junge Menschen wie er von der Ideologie der Nationalsozialisten angezogen werden konnten. „Mein Glauben in den Führer der Hitler-Jugend, Baldur von Schirach, war so tief, daß ich nicht den Berichten über Naziverbrechen glaubte, bis ich im Radio hörte, wie von Schirach diese selbst zugab, in den Nürnberger Prozessen.“
Deutsche wurden zu Opfern
In diesem Zusammenhang fiel auch ein Satz, der ihm nun von Jahn als Relativierung der Verbrechen des Nationalsozialismus ausgelegt wird: „Der Wahnsinn und die Verbrechen fanden nicht nur ihren Ausdruck im Holocaust und hörten nicht mit dem Kriegsende auf. Von acht Millionen deutschen Soldaten, die von den Russen gefangen genommen wurden, haben vielleicht zwei Millionen überlebt, der Rest wurde umgebracht“, referiert Grass vor seinem israelischen Gast.
„Es gab rund vierzehn Millionen Flüchtlinge in Deutschland. Das halbe Land ging direkt von einer Nazi-Tyrannei in eine Kommunistentyrannei über. Ich sage nicht, daß das die Bedeutung des Verbrechens an den Juden schmälert, aber der Holocaust war nicht das einzige Verbrechen. Wir tragen die Verantwortung für die Nazi-Verbrechen. Aber ihre Verbrechen fügten auch den Deutschen schweres Leid zu, und so wurden sie zu Opfern.“
Diese Sätze hält Jahn „vor aller moralischen Bewertung“ für erklärungsbedürftig. „Indem aus einer Million an Hungerfolgen Gestorbenen sechs Millionen von den Russen ermordete Deutsche phantasiert werden, stehen bei Grass der Völkermord an den Juden und das deutsche Leiden auf einer Stufe“, schreibt der Historiker.
„Millionenfacher Mord“ an sowjetischen Kriegsgefangenen?
Umgekehrt wirft Jahn den Deutschen einen „millionenfachen Mord“ an sowjetischen Kriegsgefangenen vor, welcher die Kriegsgreuel der Roten Armee rechtfertigen würde. „Ohne diese Erfahrungen der sowjetischen Soldaten, die sie eben nicht nur in Propagandaschriften, sondern als Augenzeugen wahrnahmen, sind die Schreckenserfahrungen der deutschen Bevölkerung im Jahre 1945 aber nicht zu begreifen.“
„Das Denken des Literaturnobelpreisträgers fällt zurück in die fünfziger Jahre“, wirft Jahn dem vierzehn Jahre älteren Grass vor. „Es ist, als lauschten wir Heranwachsenden der fünfziger Jahre wieder am Kaffeetisch den Erwachsenen, noch gefangen in Respekt und Schuldgefühlen vor deren Leiden und Leistungen und schon empört über den Einheitstopf, in dem alle Leidensgeschichten zu einer großen Tragik verrührt wurden.“
Eine Sicht, der Jahn entgegen treten will: „Dieses so wichtige Begreifen, daß wir im Rückschlag des Krieges Wind geerntet, wo wir Sturm gesät hatten, macht den Wind nicht zum Säuseln“, könne aber für die Frage „nach dem Warum Hilfe leisten“. Grass selbst dagegen bedauerte in seiner Biographie: „Ich vermisste die Möglichkeit, zu lernen wie man zweifelt“. (FA)