Der Mißbrauchsskandal hat die katholische Kirche erschüttert, aber nicht umgeworfen. Zur Generalabrechnung mit der Institution Kirche und ihren Besonderheiten ist er ungeeignet: Der Mißbrauch, gerade der sexuelle, von Kindern und Jugendlichen ist keine Frucht von „Lustfeindlichkeit“ und Zölibat.
Die Mißbrauchsvorwürfe gegen Gerold Becker, der zur Gipfelzeit der „sexuellen Revolution“ Leiter der reformpädagogischen Odenwaldschule wurde, haben jeden Versuch einer antiklerikalen Kampagne zum Bumerang werden lassen. Jetzt steht die doppelbödige Sexualmoral der Achtundsechziger, ihrer Vordenker und Erben am Pranger – und die Scheinheiligkeit der furchtbaren Verharmloser, die ihr Treiben bis heute rechtfertigen und decken.
Sexueller Mißbrauch ist ein gesamtgesellschaftliches Übel. Es entsteht durch Mißbrauch der Macht, die jeder Erziehende über die ihm anvertrauten Zöglinge hat. Die überwältigende Zahl der Übergriffe geschieht im Familien- und Verwandtenkreis. Pädagogische Berufe üben auf Pädophile eine geradezu magische Anziehungskraft aus. Sportvereine etwa werden gezielt von Tätern ausgesucht, nach Ansicht von Opferorganisationen gibt es dort wesentlich mehr Mißbrauchsfälle als in den Kirchen.
Zerstörung von Distanz und Schamgrenzen im Namen der Befreiung
Das entschuldigt keinen Priester und keinen Pädagogen, der den hohen moralischen Ansprüchen seines Amtes nicht gerecht geworden ist. Aber es lenkt den Blick auf die entscheidende Frage: Warum hat die angebliche „Befreiung“ von der als „repressiv“ denunzierten christlichen Sexualmoral und die damit einhergehende Durchsexualisierung der Gesellschaft das Übel des sexuellen Kindesmißbrauchs nicht aus der Welt geschafft – warum ist es im Gefolge der „sexuellen Revolution“ vielmehr zum Massenphänomen geworden?
Die verklemmte Reaktion des linken Establishment auf die jahrzehntelangen systematischen Übergriffe am alternativpädagogischen Vorzeigeinstitut Odenwaldschule gibt die Antwort: Diejenigen, die angetreten waren, um durch die Politisierung der Sexualität und durch die „Emanzipation“ der Triebe „bürgerliche“ Herrschaftsstrukturen zu zerschlagen, haben dadurch neue, unkontrollierte Machtpositionen geschaffen – für sich.
Die Zerstörung von Autorität, Distanz und Schamgrenzen im Namen der Befreiung von Repression hat die Schleusen geöffnet für den Mißbrauch dieser neuen Macht durch den Terror der Schrankenlosigkeit. Die Buchautorin und Odenwaldschülerin Amelie Fried, die schildert, wie ihr Internats-„Familienvater“ sie mit Spott über ihr „Spießertum“ zum „Strip-Poker“ genötigt hatte, legt davon unfreiwillig ein beredtes Zeugnis ab.
Das bloße Ansprechen des offenkundigen Zusammenhangs zwischen Mißbrauch und sexueller Revolution löst bei denen, die sich getroffen fühlen, wütende Steinwürfe aus dem Glashaus aus. Reflexartig hatte etwa Grünen-Chefin Claudia Roth dem Augsburger Bischof Mixa „Verhöhnung der Opfer“ vorgeworfen.
Die Verbissenheit nimmt kaum wunder; schließlich sitzt Roth, ebenso wie die Grünen-Fraktionsvorsitzende Renate Künast, die die Kirche gern finanziell „bestraft“ sehen möchte, und die liberale Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die dem Klerus ein inquisitorisches „Macht euch Gedanken!“ entgegenschleudert, im Beirat der Humanistischen Union (HU), einem Verein, der nicht nur durch radikale Kirchenfeindlichkeit auffällt. Unter seinem Dach haben Pädophilen-Lobbygruppen wie die Arbeitsgemeinschaft Humane Sexualität (AHS) lange Zeit eine wohlwollende Plattform gefunden.
Das sind keine Sünden der Vergangenheit, auch wenn sich die HU vor einigen Jahren angesichts staatsanwaltlicher Ermittlungen formal von der AHS distanziert hat. Prominente Pädophilen-Verharmloser wie der vor zwei Jahren verstorbene Helmut Kentler, Rüdiger Lautmann („Die Lust am Kind“) oder AHS-Kuratoriumsmitglied Fritz Sack saßen und sitzen weiter im Humanisten-Beirat. Einschlägige Lobbygruppen werben nach wie vor unverdrossen für eine „Entkriminalisierung der Pädophilie“, die der heutige Erste Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen im Bundestag und umtriebige Homosexuellen-Lobbyist Volker Beck schon 1988 gefordert hatte.
Statt pädophilenfreundliche Gesetze einzubringen wie in den Achtzigern, betreiben die grün-linken Erben der Achtundsechziger das Projekt der Gesellschaftsveränderung durch Sexualisierung auf subtilerem Wege weiter: durch konsequente Reduzierung des Menschen auf seine „sexuelle Identität“. Unter dem Banner der Gleichberechtigung aller möglichen Randgruppen dürfen denn auch die Pädophilen wieder Morgenluft wittern.
Vertuschung bis in die höchsten Ränge
Auf ein Wort des Bedauerns oder gar der Einsicht von Volker Beck und seinen Gesinnungsfreunden wartet man bis heute vergebens. Es wird ihnen auch nicht abverlangt – noch nicht. Verglichen mit der Uneinsichtigkeit der furchtbaren Verharmloser sind die Schuldeingeständnisse und Aufklärungsbemühungen aus den Reihen der katholischen Kirche geradezu vorbildlich.
Der Odenwaldschul-Skandal hat die ideologischen Verirrungen und die Doppelmoral der in die Jahre gekommenen Sexualrevolutionäre gnadenlos ins Tageslicht gerückt. Was immer man am Feindbild Kirche gern kritisiert, war hier in Reinkultur zu finden: Vertuschung bis in die höchsten Ränge, Deckung der Täter durch kollegiale Kumpanei, lahme Reinwaschungsversuche und weinerliche Selbstrechtfertigung. Es war ein Offenbarungseid: Die selbsternannten Befreier von einst gerieren sich als Reaktionäre von heute.
Macht, und besonders die Macht des Pädagogen über die ihm Anvertrauten, braucht die Rückbindung an Disziplin und Verantwortung, wenn sie nicht in Willkür und Mißbrauch ausarten soll. Die Ideologen und Mitläufer der „sexuellen Revolution“ sollten sich Gedanken machen, wie die Dämme der Zivilisation gegen Willkür und Hemmungslosigkeit wiederherzustellen wären, die sie mutwillig eingerissen haben.
JF 13/10