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Richard von Weizsäcker: Der Mann ohne Eigenschaften

Richard von Weizsäcker: Der Mann ohne Eigenschaften

Richard von Weizsäcker: Der Mann ohne Eigenschaften

Richard von Weizsäcker
 

Der Mann ohne Eigenschaften

Am Donnerstag wird Richard von Weizsäcker, der von 1984 bis 1994 an der Spitze des Staates stand, 90 Jahre alt: Vielen in der nivellierten Mittelstandsgesellschaft gilt der Altbundespräsident mit seinen stilistischen Feinheiten noch immer als idealer Ersatzmonarch – doch er wahrt nur den guten Schein.
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Bis heute haben viele das Gefühl, daß sich mit Richard von Weizsäcker, Bundespräsident von 1984 bis 1994, das Amt für alle Zeiten vollendet hat. „Für immer Präsident“, betitelte die ARD ihren Geburtstagsfilm. Sein Familienstammbaum weist zahlreiche Theologen, Prediger, Medizinprofessoren, Naturwissenschaftler, Philosophen auf. Der Großvater war Ministerpräsident von Württemberg, der Vater ein Marineoffizier, den der Vertrag von Versailles zwang, sich nach einem neuen Broterwerb umzusehen. Er wurde Diplomat und 1938 zum Staatssekretär im Auswärtigen Amt berufen.

Diese Herkunft bestimmt den Unterschied zur übrigen politischen Klasse; er drückt sich in stilistischen Feinheiten aus. Sein Vor-Vorgänger – der gleichaltrige, ebenfalls noch lebende, doch längst vergessene Walter Scheel – hatte die Villa Hammerschmidt im Pullman-Stil eingerichtet, den Liebhaber von Orientexpreß-Filmen für den Ausdruck vornehmer Lebensart halten. Weizsäcker möblierte die Bonner Residenz im feinen preußischen Klassizismus um, nahm auch seine Wohnung dort und dafür manche Beengtheit in Kauf.

In monarchischer Tradition

So verschmolz, ganz in monarchischer Tradition, seine Person mit der Würde des Amtes. Der nivellierten Mittelstandsgesellschaft prägte er sich damit als Ersatzmonarch ein. Allerdings hat Marcel Proust nicht minder subtil dargestellt, wie die Perspektiven des Betrachters sich mit dem eigenen sozialen Aufstieg verändern. Was in glänzenden, überirdischen Farben erstrahlt, solange es unerreichbar bleibt, wirkt bieder und gewöhnlich, wenn man es von einem höheren Standpunkt betrachtet.

So dürfte von Weizsäcker fast der Schlag getroffen haben, als er den 2008 veröffentlichten Briefwechsel zwischen der Zeit-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff und dem früheren Völkerbundkommissar Carl J. Burckhardt las. Beide waren, was man so Freunde der Familie nennt. Burckhardt, einem altem Basler Patriziergeschlecht entstammend, fand in der Weizsäckerschen Familienphysiognomie eine „Mischung von Säugling und Greis, etwas Hybrides“, „eine gewisse steile, ausgesprochen georgianische Haltung, ein selbstgefälliges (sehr bürgerliches) Edelpathos (georgisch), dieses: ‘Ich trage das Maß des kategorischen Imperativs in mir’“, und er kam zu dem Ergebnis: „Die Familie hatte immer etwas vom Strebertum des späten württembergischen Beamtenadels an sich.“ 

Auch sei Richards Mutter „im Unterschied zu ihrem Mann bis 1939 eine militante Nationalsozialistin“ gewesen. Die Gräfin, in deren Adern das Blut eines 700jährigen westfälisch-ostpreußischen Adelsgeschlechts rauschte – sie widersprach nicht. >>

Die Erinnerungen des noch im hohen Alter agilen Weizsäckers sind – darauf wurde in dieser Zeitung mehrfach hingewiesen – auffallend selektiv. So weiß er ganz genau, daß sich ihm als Kind die Hand Stefan Georges um den Nacken legte, „so daß ich sie dort noch bis heute zu spüren vermeine“. Entfallen ist ihm, daß die Familie ab 1939 in die arisierte Prachtvilla des jüdischen Bankiers Fürstenberg im Berliner Tiergartenviertel einzog.

Die Inhaftierung des Vaters als „Kriegsverbrecher“ bildet ein Familientrauma. In der als „groß“ apostrophierten Rede, die er am 8. Mai 1985 vor dem Deutschen Bundestag hielt und die zu einer monströsen Schuldanklage gegen das eigene Volk geriet, ließ er die Allgemeinheit entgelten, was die Siegerjustiz seinem Vater fälschlich als Schuld angekreidet hatte. Er vollbrachte das Kunststück, das oktroyierte Geschichtsbild zu bestätigen und gleichzeitig den eigenen Familiennamen darin zu rehabilitieren.

Was außer der Erinnerung an eine schöne Haltung wird von ihm bleiben? Als Kirchentagspräsident arbeitete er maßgeblich an der 1965 veröffentlichten Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche mit, von der ein gerader Weg zur verweigerten Erinnerung führt, die sich final in der Sabotage des Vertriebenenzentrums manifestiert. In der erwähnten Rede von 1985 erhob er den 8. Mai 1945 zum „Tag der Befreiung“: 36 Jahre nach ihrer Gründung war die Bundesrepublik geschichtspolitisch dort angekommen, wo die DDR 1949 begonnen hatte. Und danach sollte es erst richtig losgehen.

Etwas Glanz für die ausgezehrte Teilstadt

Doch es gibt auch Positives: Zweieinhalb Jahre lang, von 1981 bis 1984, brachte er, auf dem CDU-Ticket reisend, als Regierender Bürgermeister von West-Berlin ein wenig Glanz in die ausgezehrte Teilstadt. 1987 gelang es ihm während seiner Moskau-Reise, zum sowjetischen Parteichef Gorbatschow, den Kanzler Helmut Kohl durch einen flapsigen Goebbels-Vergleich schwer verärgert hatte, einen Gesprächsfaden zu knüpfen. So bereitete er das Terrain vor, auf dem die legendäre Männerfreundschaft zwischen Kohl und Gorbatschow entstand, die sich 1989/90 als überaus nützlich erwies.

Vor fünf Jahren erschien in dieser Zeitung zu Richard von Weizsäckers 85. Geburtstag ein Artikel mit der Überschrift „In jeder Lage obenauf“. Er schloß mit einem Satz über die flamboyante Romanfigur Paul Arnheim aus dem Klassiker von Robert Musil, der hier wiederholt werden soll: „Er besaß das Talent, niemals in etwas Nachweisbarem und Einzelnem überlegen zu sein, wohl aber durch ein fließendes und jeden Augenblick sich aus sich selbst erneuerndes Gleichgewicht in jeder Lage obenauf zu kommen, was vielleicht wirklich die Grundfähigkeit eines jeden Politikers ist, aber Arnheim war außerdem davon überzeugt, daß es ein tiefes Geheimnis sei.“ Am 15. April wird Deutschlands bedeutendster Mann ohne Eigenschaften 90 Jahre alt.

JF 16/10

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