Unter der nicht gerade Zuversicht verheißenden Frage „Sind Kreuzbergs Schulen noch zu retten?“ trafen sich Ende vergangener Woche besorgte Eltern in der Passionskirche am Marheinekeplatz. Sie folgen dem Aufruf von Max Thomas Mehr, Mitbegründer der taz und Vater zweier Kinder, von denen das jüngere vor der Einschulung steht.
Er ist in „Panik“, weil dieses nicht an die Schule des älteren Geschwisterkindes, sondern in die wegen Überfremdung und Gewaltvorfällen schlecht beleumdete Lenau-Grundschule gehen soll. Wie ihm geht es zahlreichen Eltern in Kreuzberg, deren vor der Einschulung stehende Kinder kurzfristig eine andere als die gewünschte Schule zugewiesen bekommen haben.
Dabei ist die Problematik nicht neu, rekapituliert Mehr. Seit Jahren ziehen deutsche Familien, ebenso wie die bildungsbewußte türkische Mittelschicht, weg in gutbürgerliche Stadtbezirke. Ihr Beweggrund: Sie wollen vermeiden, daß ihre Kinder in der schulischen Entwicklung gebremst oder sozial gefährdet werden. Mehr weiß allein aus persönlichem Umfeld von zwei Gewaltvorfällen an der Lenau-Schule. Die Eltern der betroffenen Kinder sahen sich gezwungen, diese von der Schule zu nehmen.
Seit zwanzig Jahren das gleiche Spiel
Die anwesende Direktorin dieser Schule, Karola Klawuhn, reagiert darauf mit einer bemerkenswerten Erklärung: „Manchmal stimmt die Chemie nicht, dann ist der Schulwechsel die richtige Reaktion.“
Ihre Antwort sollte darüber hinwegtäuschen, daß es die Folgen der Parallelgesellschaft sind, mit denen sich der Stadtbezirk konfrontiert sieht und die für viele Eltern nur zwei Optionen offenlassen: wegzuziehen in andere Stadtbezirke oder sich zum Schein umzumelden, damit die Kinder „auf eine der brauchbaren Grundschulen im Bezirk“ kommen, so Mehr. „Seit über zwanzig Jahren“ laufe dieses Spielchen schon.
Als Resultat dieser Entwicklung kippten immer mehr Schulen um in „Ghettoschulen“. Kennzeichnend für diese ist, daß oftmals weit über 50 Prozent der Schülerschaft aus Zuwandererfamilien stammen. An der Lenau-Grundschule etwa beträgt der Schüleranteil mit Migrationshintergrund 75 Prozent, an anderen Schulen liegt er bei über neunzig, an einer sogar bei hundert Prozent.
Den Schein vom friedlichen Multikulti wahren
Die Politiker ducken sich angesichts dessen lieber weg. Der grüne Bezirksbürgermeister Franz Schulz beispielsweise „schickte sein Kind vor Jahren lieber gleich auf die freie Schule in Tempelhof“, moniert Mehr. Die aus dem Ostteil der Stadt kommende Schulamtsleiterin des Bezirkes, Marina Belicke, „würde vermutlich weder ihre Kinder hier einschulen noch in Kreuzberg leben wollen“.
Willkürlich würden Bezirksgrenzen hin- und hergeschoben und die Kinder so verteilt, „daß der Schein vom friedlichen Multikulti“ gewahrt bleibt. Auch für die Kinder nicht-deutscher Herkunftssprache könne von „Chancengleichheit“ nicht mehr die Rede sein, wenn sie in einer Schule mit 75 Prozent oder mehr Migrantenkindern zusammen lernen sollen.
Mehr: „Wer von solchen Schulen Integration und Bildungschancen für Migrantenkinder erwartet“, sei entweder Zyniker oder verschließe seine Augen vor der Realität. Die knapp hundert Erwachsenen, die an diesem Abend in die Kirche gefunden haben, wollen nicht mehr hinnehmen, daß ihre Kinder gegen den eigenen Willen auf bestimmte Schulen geschickt werden, „nur weil das den ideologischen Planspielen einer in Wahrheit desinteressierten Verwaltung in den Kram paßt!“
„Melden Sie sich doch um!“
Beredtes Beispiel für diese Haltung, so ein Elternvertreter, sei Dirk Behrendt: „Das ist der grüne Politiker, der immer mit dem Fahrrad durch die Gegend fährt.“ Behrendt, Mitglied im Berliner Abgeordnetenhaus, habe auf die Frage des besorgten Vaters geantwortet: „Melden Sie sich doch um! Machen Sie es wie alle unsere Fraktionskollegen.“
Angesichts derart „arroganten“ Verhaltens folgert er: „Man muß die Politiker abwählen“, und erntet den ersten Applaus dieses Abends. Vor der letzten Abgeordnetenhauswahl 2006 hatte Behrendt auf der Internetplattform Kandidatenwatch.de noch vollmundig versprochen, „die Schule so gut zu machen, daß mehr Kreuzberger Jugendliche eine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben“.
Die Kritik trifft an diesem Abend auch die Bezirksstadträtin für Bildung, Monika Herrmann. Sie zählt zur Phalanx von Bezirkspolitikern, die bis heute der Gründung einer evangelischen Grundschule in Kreuzberg ablehnend gegenüberstehen. Sie bekämen, so Annerose Steinke vom Vorstand der Schulstiftung, von politischer Seite zu spüren, daß sie nicht erwünscht sind.